Süddeutsche Zeitung

Gesellschaft:Risse dürfen nicht zu Brüchen führen

Der Gesellschaft in Deutschland mangelt es an einem verantwortungsvoll geführten kritischen Diskurs. Auch das linke bis bürgerlich-liberale Lager macht es sich zu einfach.

Kommentar von Sara Maria Behbehani

"There is a crack in everything", hat Leonard Cohen einmal gesungen. Es geht ein Riss durch alle Dinge. Ein solcher Riss zieht sich durch die amerikanische Gesellschaft, aber auch, wenngleich noch nicht so dramatisch, durch die deutsche. Das Beispiel der USA kann ihr Warnung sein, wohin es führt, wenn sich Gegensätze immer weiter verschärfen.

In Deutschland besteht diese Gefahr nicht erst seit der Corona-Pandemie oder der sogenannten Flüchtlingskrise. Doch beide Ereignisse haben die Risse sichtbar gemacht. Bruchstellen der Gesellschaft entstehen, wo Interessen, Wertvorstellungen und Menschenbilder aufeinanderprallen. Scheinbar unüberwindbar gewordene Gräben durchziehen selbst Familien und Freundeskreise, wenn es um emotional belegte Themen geht - Pandemiebekämpfung, Klimakrise, Einwanderung oder Nation und Europa.

Die Verwerfungen zeigen, woran es dieser Gesellschaft mangelt: an einem verantwortungsvoll geführten kritischen Diskurs. Dazu gehört es, einander zuzuhören und das Andersdenken, das Anderssein zu akzeptieren. So ist es kein gutes Zeichen, wenn sich Menschen, die sachliche Kritik an den Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie vorbringen, verpflichtet fühlen, zuerst klarzustellen, keine Corona-Leugner zu sein und keine alten Menschen sterben lassen zu wollen.

Ja, nicht nur im Trump-Amerika versuchen rechtsautoritäre Kräfte, alle zu delegitimieren, die anderer Meinung sind als sie. Doch auch das links- bis bürgerlich-liberale Lager macht es sich zu einfach. Sein Diskurs ist oft von Arroganz geprägt. Menschen mit anderen Ansichten werden als Faschisten, Fremdenfeinde oder Spinner abgekanzelt.

Drei Gründe, warum es so populär ist, Menschen pauschal auszugrenzen und abzuqualifizieren

Gewiss, die gibt es. Doch nicht jeder, der Donald Trump gewählt hat, ist Rassist. Nicht jeder, der gegen Corona-Auflagen demonstriert, ist Verschwörungsideologe. Nicht jeder, der den Genderstern ablehnt, diskriminiert Intersexuelle. Wer Menschen pauschal als Rassisten, Sexisten, Verschwörer oder Nazis bezeichnet, im besten Fall als Idioten, treibt die Spaltung der Gesellschaft voran.

Das Ausgrenzen durch solche Begriffe ist ein billiges Mittel, um der Auseinandersetzung mit Argumenten auszuweichen. Doch warum ist es heute auf allen Seiten so populär, Menschen auf diese Weise abzuqualifizieren? Ein Grund sind die sozialen Netzwerke, die zur Blasenbildung beitragen.

Ein anderer dürfte in Überforderung liegen. Wenn in der modernen, digitalen und globalen Informationsgesellschaft ein Hagel von Fakten, Lügen und Meinungen auf die Menschen niederprasselt, ist es verlockend, sich am eigenen Weltbild festzuklammern. Und hier kommt eine dritte Komponente ins Spiel: Wer anfängt, sich selbst darüber zu identifizieren, was er von Trump oder dem Genderstern hält, fühlt sich von Gegenrede emotional getroffen. Sie stellt dann nicht nur die eigenen Argumente infrage, sondern auch die eigene Person.

Wer sich gekränkt fühlt, reagiert oft extrem

Wer sich abgewertet fühlt, empfindet Enttäuschung, Frust und Wut. So kommt es, dass bei Menschen, die sich in extremer Weise äußern, meist eine emotionale Ebene mitschwingt, die mit ihren intellektuellen Überlegungen nicht übereinstimmen muss. Diese Menschen sprechen aus einem Gefühl der Kränkung heraus.

Dagegen kann es helfen, selbst auf provokant-radikale Äußerungen sachlich zu reagieren; zuzuhören und verstehen zu wollen, warum der andere denkt, wie er denkt. Oft entschuldigen sich Menschen dann sogar für das, was sie gesagt haben, wenn sie die Chance zum offenen Diskurs erleben. Indem sie mit Respekt behandelt werden, lässt sich das Risiko mindern, dass sie in den Extremismus abrutschen.

Gewiss, es gibt Grenzen, die nicht diskutabel sind. Diese festzulegen, hilft das Grundgesetz. Es definiert, was in dieser Gesellschaft nicht verhandelbar ist. Dazu zählen Menschenwürde, Demokratie, Rechtsstaat. Prinzipien, auf die sich Deutschland längst geeinigt hat. Dementsprechend ist etwa der Vorschlag, einen Menschen in Anatolien zu entsorgen, inakzeptabel, nicht diskutabel. Letztlich gilt es zu erkennen, ob ein Mensch im Kern bereit zum Diskurs ist oder ob er den gesellschaftlichen Bruch will, weil er davon profitiert.

Leonard Cohen hat den Riss als etwas Positives verstanden: "That's how the light gets in" - so kommt das Licht herein. Auch durch die Risse in der Gesellschaft kann Licht dringen. Streit kann eine Bereicherung sein, eine Chance, viele Blickwinkel zusammenzuführen. Eine Gesellschaft, die es aushält, sich zu hinterfragen, kann wachsen. Hierin liegt der Reiz einer multikulturellen, offenen Gesellschaft im Gegensatz zur Konsensgemeinschaft. Der Riss lässt sich wertschätzen. Nur zum Bruch darf er nicht führen.

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