Sicherheitspolitik:Voll erwischt

Russland: Militärparade in Moskau

Russland verfügt nicht nur über große militärische Mittel, Präsident Wladimir Putin ist auch bereit, diese einzusetzen, um russische Interessen durchzusetzen.

(Foto: Alexander Zemlianichenko/AP)

Deutschland stolpert unvorbereitet durch eine von historisch vielen Krisen heimgesuchte Welt. Seine bisherigen außenpolitischen Glaubenssätze taugen nicht mehr - und neue traut es sich kaum zu. Diese Schwäche macht eine Aggression von außen erst möglich.

Kommentar von Stefan Kornelius

Für das außenpolitische Selbstverständnis der Deutschen waren die vergangenen Jahre ausgesprochen irritierend. Das Land, das seine Balance in der Welt in guten Geschäften und guten Ratschlägen fand, muss feststellen, dass eine Gewissheit nach der anderen wankt, der Einfluss schwindet und die ach so bequeme Stabilität dahinschmilzt. Ein Gefühl der Unsicherheit, manchmal gar der Hoffnungslosigkeit hat sich breitgemacht.

Allein in den letzten wenigen Monaten umfasst der Katalog des Niedergangs den gesamten Kosmos der außenpolitischen Selbstverständlichkeiten: Die USA werden von einem antidemokratischen Narzissten regiert und entkommen nur knapp einem Demokratie-Kollaps, der französische Nachbar erklärt das gemeinsame Verteidigungsbündnis für hirntot, Nationalisten und Populisten treiben die EU auseinander, der wichtigste Wirtschaftspartner - im Fernen Osten - zerstört die globalisierte Handelswelt aus nationalem Interesse und baut en passant an einer neuen Weltordnung. Ah ja, fast vergessen: Nach 20 Jahren endet eine Militärmission in Afghanistan in Flucht und Kollaps. Und nun schickt sich Russland an, einen Krieg nach Gusto zu führen, um seinen erpresserischen Willen zu unterstreichen - ganz einfach, weil es dies kann.

Deutschlands Naivität und Mutlosigkeit im Umgang mit der Welt

Es verwundert also nicht, dass die allemal pandemiegeplagte Nation unverträglich auf die Überdosis Krise reagiert, dass sie nach Führung verlangt oder im schlimmsten Fall die Orientierung aufgibt, weil der Kompass viel zu lange schon nicht mehr justiert wurde. Die nicht enden wollende Serie an dramatischen Weltereignissen, Schwächeanfällen und Niederlagen hat große Rat- und Hilflosigkeit ausgelöst - und das zeugt von Naivität und Mutlosigkeit im Umgang mit der Welt.

Zu den ritualisierten Forderungen der Münchner Sicherheitskonferenz gehört nicht erst seit Bundespräsident Joachim Gaucks Auftritt der Satz, Deutschland müsse mehr Verantwortung in der Welt übernehmen. Dieser Satz, mit großer Bestimmtheit vorgetragen, endete in der Regel: nirgendwo. Denn wann immer dieses Deutschland nach mehr Verantwortung strebte, geschah es nach der Formel "mehr vom selben". Mehr Geld, mehr Gespräche, mehr Mahnungen, mehr Forderungen. Deutsche Außenpolitik ist die Meisterin der Mitte, der Balance, der Scheu, der Vorsicht.

Diese Eigenschaften sind in der Regel auch gut investiert, vor allem wenn Außenpolitik in der Ableitung des wichtigsten Interesses der Deutschen betrieben wird: Europa, die EU, ist Deutschlands Friedens- und Wohlstandsgarant, weshalb das mächtige Land in der Mitte tunlichst behutsam und konstruktiv die Einheit und Geschlossenheit der Gemeinschaft pflegen sollte.

Das Grundvertrauen ins Gute ist überheblich - und noch dazu gefährlich

Aber es gibt eben noch ein paar andere Annahmen, denen das Land treu folgt, ohne ihre Tauglichkeit für das Jahr 2022 hinterfragt zu haben. Es war der deutsche Diplomat Thomas Bagger, der vor drei Jahren in einem aufsehenerregenden Aufsatz die zwei wichtigsten nannte. Stimmt es also, dass der Weg zu immer mehr Demokratie, Liberalität und Rechtsstaatlichkeit führt, dass diese Regierungsformen überlegen und unwiderstehlich sind und insofern früher oder später von allen akzeptiert werden? Und ist es korrekt, dass militärische Macht keine Rolle mehr spielt, gerade weil man ja von Freunden umgeben ist?

Dieses Grundvertrauen in das Gute und Wahre, in die Kraft des Vorbilds, kann man schon für überheblich halten. Heute, im Krisenwirbel der Zeit, ist es gefährlich, Außenpolitik mit den Vorstellungen der Nachwendejahre zu gestalten und sich ansonsten in moralische Überlegenheit zu flüchten. Mögen die anderen doch Waffen kaufen - für Deutschland ist die Wahrscheinlichkeit eines Kriegs ausgeschlossen, weil die Vernunft ihn verbietet. Das Problem ist: Wladimir Putin hält einen Krieg nicht zum ersten Mal für ein probates Mittel, um seine Interessen durchzusetzen. Die Welt, die Deutschland sich schönfärbt, schillert in der Regel in hartem Schwarz oder Weiß.

So musste also der Augenblick kommen, da diese unbarmherzige Welt auch das zaghafte Deutschland an seiner größten Schwäche packt: der Moral. Ist es verwerflich und gar kriegsfördernd, der bedrohten Ukraine zu ihrer eigenen Verteidigung Waffen zu stellen? Oder gibt es nicht geradezu eine Verpflichtung, einem der größten Opfervölker der Nazi-Gräueltaten zu helfen, einen Überfall des russischen Nachbarn abzuwehren?

Die Frage ist doch: Was hilft, deutsche Interessen durchzusetzen?

Es ist ja bezeichnend für die deutsche Debatte, dass sie nahezu ausschließlich in moralischen Kategorien geführt wird, nicht aber entlang der Frage entschieden wird, was hilft, deutsche Interessen durchzusetzen? Was bedeuten noch die klassischen militärischen Grundsätze der Abschreckung und einer glaubwürdigen Verteidigungsfähigkeit? Und was sagt es über die Wahrnehmung der Welt, wenn diese von Friedfertigkeit erfüllte Nation alle vier Jahre zur Bundestagswahl die Logik der nuklearen Abschreckung infrage stellt und so tut, als gehe sie das alles nichts mehr an?

Während die Welt rauer und unberechenbarer wird, flüchtet sich Deutschland in eine Ideallandschaft, getreu dem Grundsatz, dass sich das Gute schon durchsetzen wird. Wie sehr diese Haltung inzwischen als Schwäche und Belastung für das Bündnis angesehen wird, ließ sich in der Ukraine-Krise hinreichend dokumentieren. Die eigentliche Rechnung aber wird in Deutschland selbst fällig, wo diese historische Krisendichte auf eine weitgehend unvorbereitete Bevölkerung trifft, der schlicht das Handwerkszeug fehlt, um mit Erpressung, Nötigung, militärischer Bedrohung und Angriff auf das politische System umzugehen. Unsicherheit entsteht durch einen Aggressor. Aber gefährlich wird sie erst durch Schwäche.

Zur SZ-Startseite

SZ PlusMeinungNationalismus
:Das alte Übel ist zurück

Nach dem Kalten Krieg galt der Nationalismus als besiegt. Doch nun entwickeln neue nationalistische Obsessionen selbst im freien Europa neue Zersetzungskraft. Welche Rolle spielen sie im Konflikt zwischen Russland und Ukraine?

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: