Süddeutsche Zeitung

Coronavirus:Die Impfstoffzulassung verdeutlicht ein großes Problem der EU

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Wohl acht Tage vor dem geplanten Termin aber immer noch Wochen nach anderen Ländern darf in der EU mit dem Vakzin geimpft werden. Die europäische Gesundheitsbürokratie bedarf einer Reform.

Kommentar von Stefan Kornelius

Corona setzt auch dem Grundgedanken der Europäischen Union zu, der Einheit. Zu Beginn der Pandemie gingen in der Union die Schlagbäume nieder, und die europäische Politik suchte ihr Heil im Nationalen. Während in Norditalien gestorben wurde, diskutierte Österreich über die Verlegung von Panzern an den Brenner, und in Deutschland wähnte man sich weit weg. Bis die ersten französischen Patienten in Freiburg behandelt werden konnten, vergingen quälend lange Wochen. China verteilte unterdessen Masken und Fähnchen.

Nach dem ersten Schock gelobten die Gesundheitsminister Besserung. Sie regelten die Kooperation bei der Verteilung eines Impfstoffs und handelten darüber Verträge aus. Das war nicht einfach, denn zum Katalog der Gemeinschaftsaufgaben gehört die Gesundheitspolitik nicht, selbst wenn Arzneimittel aus marktwirtschaftlichen Gründen gemeinsam zugelassen werden.

Es ist dieses diffuse Zuständigkeitsgerüst, das nun beinahe wieder zur Kollision geführt hätte - diesmal mit den Bürgern der EU. Denn es ist schwer zu vermitteln, warum ein in Deutschland entwickelter und aus Belgien heraus vertriebener Impfstoff zwar in Großbritannien, den USA, Kanada, Bahrain oder Israel verabreicht werden darf, nicht aber dort, wo er erfunden und an Probanden getestet wurde.

Das Mainzer Unternehmen Biontech hat den Antrag auf Zulassung seines Impfstoffes gleichzeitig bei der amerikanischen FDA und der europäischen EMA eingereicht. Beide Behörden arbeiten nach vergleichbaren Standards, allerdings kennt das europäische System kein beschleunigtes Verfahren, aus simplem Grund: Die nationalen Zulassungsbehörden in Europa haben ihr Dasein nicht aufgegeben, die Abstimmungs- und Rückversicherungsverfahren in Europa beschäftigen also 27 zusätzliche Akteure.

Die Logik der Bundesregierung folgte dem entgegengesetzten Prinzip: nur keinen Impfnationalismus

Die US-Behörde muss auf solche nachgeordneten Befindlichkeiten keine Rücksicht nehmen und kann beschleunigen. Die britische Behörde entschloss sich zum selben Verfahren, weil der Brexit das Land allemal aus dem gemeinsamen System katapultiert und es der Regierung Johnson mehr als gelegen kam, mit der Beschleunigung ihre politische Selbständigkeit zu demonstrieren. Überhaupt streichelte die Botschaft von der Schnellzulassung die britische Seele exakt an jenem Tag, an dem Johnson mit dem britischen Oberhaus kollidierte und der Nation beweisen wollte, wie angenehm die neue Freiheit duftet.

Die Logik der Bundesregierung folgte dem entgegengesetzten Prinzip: nur keinen Impfnationalismus, um den Zusammenhalt in der EU nicht zu gefährden. Nach dem Brenner-Erlebnis vom März hätte eine deutsche Schnellzulassung durch das Paul-Ehrlich-Institut eine politische Katastrophe ausgelöst - und das im Augenblick höchster Spannung während der deutschen Ratspräsidentschaft mit den sensiblen Verhandlungen zum Budget und zur Corona-Hilfe. Abgesehen davon hätten nationale Alleingänge auf dem Kontinent möglicherweise zu einem unkontrollierbaren Impftourismus über die Grenzen hinweg geführt und das gut austarierte Verteilungsnetz ins Wanken gebracht.

Dass die EU-Behörde unter dem Druck der Ereignisse die Zulassung nun auf den 21. Dezember legt, wendet die politische Impf-Katastrophe in Europa gerade noch einmal ab. Nicht abwenden aber lässt sich die Generalinventur und Reform der europäischen Gesundheitsbürokratie.

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