Süddeutsche Zeitung

Europa und die Pandemie:Schengen darf nicht dem Virus zum Opfer fallen

Die Europäer müssen gegen Covid-19 kämpfen, zugleich aber auch um ihre Union. Selbst wenn die Schlagbäume innerhalb der EU eines Tages wieder hochgehen, werden die Brüche so schnell nicht verschwinden.

Kommentar von Daniel Brössler

Mit so brutaler Wucht und in so rasender Geschwindigkeit hat eine neue Wirklichkeit in Europa Einzug gehalten, dass es schwer geworden ist, sich eine andere Wirklichkeit noch vorzustellen.

Dennoch sollte ein Gedankenexperiment erlaubt sein. Was wäre gewesen, wenn die Staaten der Europäischen Union die Gefahr durch das neue Coronavirus frühzeitig erkannt und gemeinsam Gegenmaßnahmen ergriffen hätten? Was, wenn das öffentliche Leben unionsweit anhand gemeinsamer Leitlinien heruntergefahren worden wäre?

In so einem Szenario hätte sich die faktische Schließung zahlreicher Binnengrenzen erübrigt. Europa wäre vereint gewesen im Kampf gegen das Virus.

Aus heutiger Sicht mag das illusorisch wirken. In Zeiten der Pandemie erlebt der Nationalstaat eine Renaissance als scheinbar einzig verlässliche Größe zum Schutz der Gesundheit der Bürger. Dazu passt die Vorstellung, diese Gesundheit könne und müsse vor allem auch an den Landesgrenzen verteidigt werden.

Im Einzelfall mag das stimmen. Zum effektiven Kampf gegen die Pandemie gehört selbstverständlich auch, Einreisen aus Risikogebieten zu verhindern. Weniger einleuchtend ist, warum zwischen Ländern mit ähnlichen Schutzmaßnahmen und vergleichbarer Corona-Ausbreitung Handel und Pendlerverkehr erschwert werden müssen. In einem gemeinsam agierenden Europa wäre das überflüssig.

Vermieden werden könnten in so einem Europa jene Neben- und Nachwirkungen der nun zeitweise geltenden Grenzkontrollen, mit denen die EU noch lange zu kämpfen haben wird. Das gilt für die Behinderungen, denen nun Pendler unterworfen sind. Arbeitskräfte, die jetzt verloren gehen, werden womöglich nicht wiederkommen.

Auch ein Teil des Schadens, den der Binnenmark gerade nimmt, wäre vermeidbar. Industrie und Handel stehen schon jetzt vor den Trümmern eines kaum noch gemeinsamen Wirtschaftsraumes.

Die Grenzen werden sich nach der Corona-Krise wohl nicht so einfach wieder öffnen lassen. Und selbst wenn die Schlagbäume sich heben, werden Brüche, die in jahrzehntelang zusammengewachsenen Grenzregionen in kürzester Zeit wieder entstanden sind, nicht ohne Weiteres verschwinden.

Schengen ist die große Errungenschaft der EU - alles andere leitet sich von ihr ab

Erfreulich ist insofern, dass die von Deutschland bisher für fünf Binnengrenzen verfügten Kontrollen nun vorerst doch nicht auf weitere Grenzen ausgeweitet werden sollen.

Ob es geboten ist, wie nun von Bundesinnenminister Horst Seehofer angestrebt, alle Einreisenden aus dem Ausland einer häuslichen Quarantänepflicht zu unterwerfen, ist eine Frage an die Wissenschaft. Das national distancing, die nationale Abschottung, sollte jedenfalls unter demselben Begründungsdruck stehen wie das social distancing, die räumlichen Distanzierung, der die Menschen im Alltag unterworfen sind.

Das im Schengener Vertrag verankerte und seit 25 Jahren verwirklichte grenzenlose Reisen, Handeln und Arbeiten ist die große Errungenschaft der EU. Alles andere leitet sich von ihr ab. Diese Errungenschaft stand schon vor der weltweiten Corona-Krise unter Druck, etwa im Streit um die Migration. Sie darf dem Virus nun nicht zum Opfer fallen.

Die Europäer müssen gegen die Pandemie kämpfen, zugleich aber auch um ihre Union. Wie gut das gelingt, wird schon bald an den Binnengrenzen zu sehen sein.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4869410
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 07.04.2020/odg
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.