Süddeutsche Zeitung

Wegfallende Testpflicht:Das falsche Zuckerl

Wer geboostert ist, entgeht der Testpflicht - mit dieser Aussicht soll die Auffrischungsimpfung besonders attraktiv gemacht werden. Das ist erstaunlich kurzsichtig: Die Politik sollte inzwischen gelernt haben, mit Versprechungen vorsichtig zu sein.

Kommentar von Angelika Slavik, Berlin

Der Mensch liebt Belohnungen, da könnte man es für eine gute Idee halten, auch die Booster-Impfungen mit einem Zuckerl zu versehen. Wer dreimal geimpft ist, soll künftig von Testpflichten befreit sein - darauf einigten sich die Gesundheitsminister am Dienstag. Konkret bedeutet das: Wer Veranstaltungen besuchen will, für die eigentlich "2 G plus" gilt, die also nur Menschen offenstehen, die zweimal geimpft und zusätzlich getestet sind, umgeht die Testpflicht, wenn er oder sie eine Auffrischungsimpfung nachweisen kann.

Praktisch! Oder? Medizinisch scheint dieser Schritt nach Einschätzung vieler Experten vertretbar zu sein - und trotzdem muss man zweifeln, ob er besonders schlau ist.

Klar, die Überlegung ist schon nachvollziehbar: Man will möglichst schnell möglichst viele Menschen zum Boostern motivieren, um die vierte Welle zu brechen und die Krankenhäuser zu entlasten. Außerdem sind vielerorts die Labore am Anschlag, da erscheint es sinnvoll, die Menschen mit dem besten Ansteckungsschutz von der Testplicht zu entbinden.

Aber nach fast zwei Jahren Pandemie weiß man auch, wie schnell sich die Lage ändern kann. Was heute richtig ist, kann in ein paar Wochen - bei neuem Erkenntnisstand, veränderter Inzidenz oder anderer Virusvariante - schon wieder falsch sein. Genau deshalb ist der Umgang mit dem Virus nicht nur eine wissenschaftliche, sondern auch eine kommunikative Herausforderung. Denn Menschen kommen mit Unsicherheit, mit ständigen wechselnden Regeln sehr unterschiedlich zurecht. Da gibt es jene, die den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess in einer Pandemie als das akzeptieren können, was er eben ist: ein laufendes Verfahren, in dem sich Antworten eben auch verändern. Und es gibt viele andere, die sich damit schwertun oder sich erst gar nicht in die Komplexität des Themas vertiefen. Das muss man nicht belächeln, es ist einfach Teil der Realität.

Es mag also mit Blick auf Ansteckungsrisiken und Laborkapazitäten vertretbar sein, jetzt den Geboosterten ein Leben ohne Testpflicht in Aussicht zu stellen - in Hinblick auf die politische Glaubwürdigkeit kann sich das noch rächen. Denn welche Dynamik kassierte Zusagen entwickeln können, zeigt das Beispiel der Impfpflicht: Das Versprechen aus der frühen Phase der Pandemie, dass es die Impfpflicht niemals geben werde, fliegt der Politik jetzt um die Ohren. Ebenso die Ansage, dass man mit zwei Impfungen am Infektionsgeschehen praktisch nicht mehr teilnehmen werde. Beides hielt man damals für richtig. Aber das Virus hat die Parameter eben verändert - und zu glauben, dass es das nicht wieder tun könnte, ist erschreckend kurzsichtig.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat gleich bei seiner Amtsübernahme gesagt, es sei ihm wichtig, politische Entscheidungen auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse zu treffen. Das ist gut. Aber Corona hat nicht nur medizinisch grausame Folgen, sondern auch gesellschaftlich. Die unsicheren Zeiten machen viele Menschen anfällig für falsche, aber einfache Antworten, wie sie Querdenker, Verschwörungsgläubige, Rechtspopulisten anbieten. Deshalb muss man alle Maßnahmen und alle Versprechen auch unter diesem Gesichtspunkt abwägen - und im Zweifel auch kommunikativ lieber keine Versprechen geben, die man womöglich nicht halten kann.

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