Süddeutsche Zeitung

Corona-Politik:Die Leiden der anderen

Isolation führt zu psychischen und sozialen Schäden in der Gesellschaft. Statt ständig Milliarden in den Stillstand zu pumpen, sollte der Staat vulnerablen Gruppen helfen.

Von Sara Maria Behbehani

Es gab einmal eine Zeit, da richteten die Menschen ihren Blick sehnsuchtsvoll auf das neue Jahr. Es sollte anders, es sollte besser werden. 2021 sollte einlösen, was 2020 nicht halten konnte. Und die Seuche, so mochte man in naivem Glauben lange hoffen, würde sich dann schon aus dem Alltag stehlen. Heute dürfte jedem klar sein, dass das nicht passiert und die Rettung durch den Impfstoff noch viele Monate dauert. So stellt sich im Angesicht eines erneuten harten Lockdowns die Frage, wie viele psychische Schäden diese Gesellschaft hinnehmen will, um sich in welchem Ausmaß vor der Seuche zu schützen.

Denn die psychischen Folgen der Krise treten deutlich zutage: in Form zunehmender Aggressivität unter Corona-Demonstranten; im zwischenmenschlichen Bereich, in dem Gereiztheit statt Nachsicht um sich greift; und in psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen und Schlafstörungen, die signifikant zugenommen haben. Die Krankenkasse DAK verzeichnet einen Anstieg der Krankmeldungen wegen psychischer Leiden um sieben Prozent im Vergleich zum Vorjahr. In einer Befragung des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim gaben 37 Prozent der Teilnehmer an, während des Shutdowns mehr Alkohol als vorher zu trinken.

Weitreichende soziale und psychische Schäden müssen aber ebenso berücksichtigt werden wie Todesfälle und wirtschaftliche Einbußen. Psychologen berichten, dass die Isolation für manche Menschen kaum mehr auszuhalten sei und die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung teils angsteinflößender seien als das Virus. Daher wäre es wichtig, flexible und kreative Mittel gegen die Einsamkeit und Enge zu finden, insbesondere für die weniger Privilegierten.

Hierzu zählt auch die junge Generation, verschrien als Partymacher und Pandemietreiber. Dabei gaben bei einer Tui-Jugendstudie 83 Prozent der Befragten zwischen 16 und 26 an, sich an die Maßnahmen zu halten. Auch diese jungen Leute leiden. Viele von ihnen leben in Einzimmerwohnungen, in denen der eine Tisch im Raum Schreibtisch, Esstisch und Küchentisch zugleich ist, oder ertragen die 14-tägige Quarantäne im neun Quadratmeter kleinen WG-Zimmer. Es ist ein Leben, das in normalen Zeiten zwangsläufig anderswo, in Bars, Restaurants, Kultur- oder Sportstätten stattfindet, weil es noch keine Zeit hatte, sich seinen eigenen Raum zu schaffen. So entsteht das bedrückende Gefühl der immer näher rückenden vier Wände nicht nur durch einen Mangel an Menschen, sondern auch durch einen Mangel an Leben. Auch das muss in die Abwägungen bei den Corona-Maßnahmen eingehen.

Statt wieder und wieder Milliarden in den Stillstand zu pumpen, gilt es, sozial verträglichere Mittel auszuschöpfen. Wenn besonders vulnerable Gruppen, etwa in Altenheimen, konsequent geschützt würden, könnte man von zermürbenden Lockdown-Maßnahmen Abstand nehmen und versuchen, psychische Schäden abzumildern. Man könnte die Quarantänezeit durch Freitestung verkürzen. Man könnte auch Menschen in Quarantäne erlauben, allein und mit FFP2-Maske spazieren zu gehen. Man könnte das kulturelle und gastronomische Leben im Freien gestatten. Genug Menschen wären bereit, im Skianzug ein Glas Wein zu trinken oder den Sportkurs auf dem Parkplatz des Fitnessstudios zu besuchen.

Es gilt, an die zu denken, die keine funktionierende Psyche, Partnerschaft oder ein Haus mit Garten haben. Dabei muss auch der Einzelfall zählen. Für die Politik eine scheinbar unmögliche Herausforderung - aber in der Pandemie wurde schon vieles umgesetzt, was als unmöglich galt.

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