Süddeutsche Zeitung

Coronavirus:Wer geimpft ist, darf keine Privilegien erhalten

Der Staat muss jetzt klare Regeln für die schwierige Übergangszeit in der Pandemie schaffen. Sonst geht die Solidarität in der Gesellschaft verloren.

Kommentar von Constanze von Bullion

Keine Sonderrechte für Geimpfte heißt die Losung der Bundesregierung. Nach Bundesinnenminister Seehofer hat sich auch Gesundheitsminister Spahn gegen Privilegien für Menschen ausgesprochen, die bereits gegen Covid-19 geimpft sind. Das kling gut und ist angemessen. Aber diese Haltung dürfte schon bald auf eine harte Probe gestellt werden.

Richtig ist: Solange nicht jeder erwachsene Mensch selbst entscheiden kann, wann er sich gegen eine Corona-Infektion impfen lassen möchte, darf es keine Vorzugsrechte für Geimpfte geben. Das aber ist noch nicht der Fall. Wo der Impfstoff nur in Mini-Dosen unters Volk gebracht werden kann, ist ungleiche und ungerechte Verteilung die Konsequenz. Viele werden noch monatelang warten müssen. Von Zufällen oder einem zu geringen Lebensalter aber darf es nicht abhängen, wer im kommenden Jahr wieder eine Kneipe betreten, die Eltern in der Klinik besuchen oder uneingeschränkt seinem Beruf nachgehen kann.

Bis ausreichend Impfstoff zur Verfügung steht, müssen gleiche Rechte für alle gelten, oder anders ausgedrückt: gleiche Einschränkungen für alle. Denn erstens ist noch keineswegs klar, ob eine Impfung auch die Ansteckung anderer verhindert. Geimpfte, die von allen Einschränkungen befreit durch die Welt spazieren, könnten zu Superspreadern werden, ohne es zu wissen. Das ist zu verhindern. Zweitens aber würde die Privilegierung der Geimpften für Entsolidarisierung sorgen.

Zu impfen sind alle, die es wollen

Schon jetzt schüren Boulevardblätter den neuen Impf-Neid. Warum, so wird da insinuiert, kommt eine 101-Jährige als Erste in den Genuss der Impfung? Solche Frage dürfen gestellt werden, gewiss. Aber sie müssen auch unmissverständlich beantwortet werden, und zwar sofort, wenn sich das gesellschaftliche Klima nicht weiter vergiften soll.

Zu impfen sind alle, die es wollen. Und zuerst an die Reihe müssen diejenigen kommen, die das höchste Pandemie-Risiko tragen: Hochbetagte, deren Helfer, Gefährdete aller Sorte. Wer das ändern will zugunsten einer Abwägung der Nützlichkeit, marschiert geradewegs in eine Euthanasiedebatte nach dem Muster: Das Leben der Jungen und Leistungsfähigen ist mehr wert als das der Gebrechlichen, die ohnehin bald sterben. Damit gäbe eine demokratische Gesellschaft ihren humanitären Kern preis.

Es sollte auch keine Zwei-Klassen-Gesellschaft der Befreiten und der noch Wartenden und stark Eingeschränkten geben, jedenfalls nicht über viele Monate. Lässt sich das so ohne Weiteres durchsetzen? Sicher nicht.

Je weiter der Impfprozess voranschreitet, desto lauter wird nach der Verhältnismäßigkeit der Pandemiemaßnahmen gefragt werden. Sind erst einmal 20 oder 30 Prozent der Bevölkerung geimpft, wird Rücksichtnahme immer schwerer durchsetzbar. Es werden sich verdammt gute Argumente finden müssen, um wirtschaftliche Beschränkungen oder Verzicht auf Nähe weiter durchzusetzen, auch vor Gericht, wenn die Zahl der Menschen stetig sinkt, die die Pandemie mit Tod oder schwerster Erkrankung bedroht.

Ein neuer Corona-Sturm könnte da aufziehen, dem die Geimpften besser standhalten würden als die Gefährdeten. Das darf nicht passieren. Es braucht jetzt eine klare gesetzliche Regelung für die schwierige Übergangszeit nach dem Impfen. Appelle aus der Politik reichen nicht.

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