Süddeutsche Zeitung

Geimpfte und Genesene:Jeder Rentner am Strand ist ein Grund zu Hoffnung und Freude

Es bleibt nicht nur juristisch geboten, Menschen, die wohl nicht mehr ansteckend sind, ihre Freiheiten zurückzugeben. Es wäre sogar auch im Interesse derjenigen, die weiter zu Hause sitzen müssen.

Kommentar von Detlef Esslinger

Stephan Weil, der Ministerpräsident von Niedersachsen, drückte sich im ZDF recht verschwurbelt aus; er wollte sich erkennbar nicht vorwagen. Sollen Geimpfte und Genesene wieder ihre Freiheiten zurückerhalten? Das Infektionsschutzgesetz sieht diese Möglichkeit ausdrücklich vor. Er rate sehr zur Vorsicht, sagte Weil aus Anlass des Bund-Länder-Gipfels am Montag, der auch über diese Frage beriet. Dies sei "eine Problematik von hoher gesellschaftspolitischer Sprengkraft"; das Stichwort "Zweiklassengesellschaft" nannte Weil.

Andere machen bei ihrer Wortwahl weniger Umstände. Worum es letztlich geht, das hat Tilman Kuban, der Vorsitzende der Jungen Union, schon vor Wochen so formuliert: "Was natürlich nicht sein kann, ist, dass im Sommer die Rentner am Strand liegen, aber die junge Generation weiterhin zu Hause sitzt."

Das Problem: Der Mensch ist ein Wesen, das sich vergleicht

Natürlich wäre dies für alle noch nicht Geimpften die nächste Zumutung: Nach dem monatelangen Lockdown und dem elend langen Winter demnächst zwei Meter am Restaurant, am Museum vorbeigehen und anderen zuschauen zu müssen, die es sich wieder gutgehen lassen dürfen. Wenn es etwas gab, das während der Pandemie half, sich irgendwie in die Solidarität zu fügen, war dies der Umstand, dass diese Solidarität ausnahmslos allen auferlegt war. Der Mensch ist nun mal ein Wesen, das erstens nach Freiheit und Selbstbestimmung verlangt - und sich zweitens stets vergleicht: Was hat der, was ich nicht habe? Wieso darf die das, aber nicht ich? "Zweiklassengesellschaft" ist ein Ausdruck, bei dem die Ablehnung immer fest eingebaut ist.

Trotzdem ist es - in dem Fall - richtig, für sie zu werben. Nicht nur, weil die juristischen Gründe so überzeugend sind, die seit Wochen vorgetragen werden: Nicht die Bürger müssen im freiheitlichen Rechtsstaat begründen, warum sie ihre Grundrechte zurückwollen, sondern der Staat muss begründen, wenn er sie ihnen nehmen will. Sofern und sobald wissenschaftlich belegt ist, dass Geimpfte und Genesene kaum ansteckend sind, ist es weder länger erforderlich, geeignet, noch angemessen, ihnen Restaurant und Strandkorb zu verwehren. Jedes Gericht, das die Verhältnismäßigkeit von Ge- und Verboten prüft, dürfte dann zu diesem Schluss kommen.

All die Schulden müssen ja wieder getilgt werden

Wer indes findet, eine solche Entscheidung würde nicht im Namen des Volkes, jedenfalls nicht in seinem, getroffen werden, findet vielleicht einen anderen Hinweis eingängiger. Bund, Länder und Kommunen machen im Zuge der Pandemie Hunderte Milliarden Euro Schulden. Die Annahme wäre naiv, sie durch Wachstum wie von selbst zu bezahlen; ohne Kürzung von Ausgaben und Erhöhung von Steuern wird es kaum gehen.

Jeder Tag, an dem ein Restaurant geschlossen bleibt, jeder Tag, an dem kein Konzert stattfinden darf, bedeutet: mehr Ausgaben für den Staat und weniger Steuereinnahmen. Doch umgekehrt: Jeder einzelne wiedergewonnene Kunde verschafft einem Unternehmer Einnahmen, mit der Folge, dass er weniger Hilfe, weniger finanzielle Solidarität durch die Gemeinschaft aller braucht. Absolute Gleichheit ist nur herzustellen, indem man allen alles verbietet. Abgesehen davon, dass dies nicht das Gesellschaftsmodell in diesem Teil der Welt ist - es wäre zudem das teuerste. Jeder Rentner, der am Strand seinen Prosecco trinkt, entlastet die Kasse auch in der Generation von Tilman Kuban.

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