Süddeutsche Zeitung

Corona:Herr Unbeirrbar fällt um

Vom Nein zur Impfpflicht zum Ja zur Impfpflicht in nur wenigen Wochen - ist Olaf Scholz deshalb ein Vorwurf zu machen? Das hängt vom Motiv für den Meinungsumschwung ab.

Kommentar von Nico Fried

Olaf Scholz ist eine gewisse Hartleibigkeit zu eigen. Journalisten verzweifeln mitunter an seiner Art, Antworten auf Fragen zu geben, die man ihm nicht gestellt hat, und dafür keine Antworten auf Fragen, die man ihm gestellt hat. Am Dienstagabend konnte sich das Fernsehpublikum von dieser Eigenschaft des künftigen Kanzlers in mehreren Interviews überzeugen. Man muss Scholz zugutehalten, dass er mit diesem Beharrungsvermögen weit gekommen ist, zuletzt bis zu einem Sieg bei der Bundestagswahl. Von dessen Machbarkeit hatte er sich auch nie abbringen lassen, egal wieviel Zweifel ihm selbst aus der eigenen Partei entgegenschlug.

Es muss also Bedeutendes passiert sein, wenn Herr Unbeirrbar bei der allgemeinen Impfpflicht seine Meinung, diese Diskussion solle man nicht führen, binnen weniger Wochen ins Gegenteil verkehrt hat und jetzt für die Impfpflicht eintritt. An Olaf Scholz klebt nun der Ruch des Umfallers. Ist das schlimm? Das hängt von seinen Motiven ab.

"Was schert mich mein Geschwätz von gestern"

Im Umgang mit Wankelmut sind die Deutschen ambivalent. Von Konrad Adenauer wird der Satz zitiert: "Was schert mich mein Geschwätz von gestern, nichts hindert mich, weiser zu werden." Dieser Spruch hat nur einen Schönheitsfehler: Der erste Bundeskanzler hat ihn wohl nie gesagt. Mithin drückt seine stets von einem gewissen Respekt begleitete Kolportage vor allem aus, dass Bürger milde gestimmt sein können, wenn ein Umfaller nur mit ausreichend Autorität auftritt.

Von Helmut Kohl, zwischen dessen gegensätzlichen Positionen zur Finanzierung der deutschen Einheit genau eine Bundestagswahl lag, drapierte die Bild-Zeitung einst ein Foto quer über die Titelseite und schrieb dazu in Riesenschrift: "Der Umfaller". Kurzfristig hat Kohl sich sehr geärgert, langfristig hat's ihm nicht geschadet. Seine Nachfolger ließen sich nicht so leicht erwischen, auch weil sie ihre Haltungen langsamer änderten: Bei Gerhard Schröder und Rot-Grün hatte die Politik der Kriegseinsätze nichts mehr mit dem Pazifismus früherer Jahre zu tun. Und gemessen an Positionen der jungen CDU-Vorsitzenden Angela Merkel in der Zuwanderungspolitik war auch die spätere Flüchtlingskanzlerin eine Umfallerin.

Die Impfpflicht soll womöglich auch von eigenen Versäumnissen ablenken

Die Beispiele zeigen, dass es übergeordnete, ja weltpolitische Gründe geben kann umzufallen - oder freundlich formuliert: dazuzulernen. Auch bei der Impfpflicht reicht ein Blick auf die Belegung der Krankenhäuser im Verhältnis zur deutschen Impfbilanz, um zu erkennen, wie sich die äußeren Umstände verändert haben. Politik aber spielt nie im Bereich absoluter Objektivität. Die Gründe, die andere Umfaller von Robert Habeck bis zu dem noch in Schräglage befindlichen Christian Lindner haben, sind eben auch subjektiv. Mit dem Druck, den sie nun machen, geben sie auch dem Druck nach, der auf ihnen lastet. Getreu dem Motto: Wenn du eine Bewegung nicht aufhalten kannst, setze dich an ihre Spitze.

Im Wust der Corona-Politik, in der immer wieder Interessen hart aufeinanderprallen, hat sich die Impfpflicht zu einer der wenigen Forderungen entwickelt, für die es mittlerweile eine klare öffentliche Zustimmung gibt, weil sich der Ärger der etwa 70 Prozent Geimpften auf jene entlädt, die das verweigern. Eine solche Stimmung aufzugreifen, muss in der Demokratie nicht schlecht sein. Nur drängt sich nach den vergangenen Wochen der Versäumnisse der Verdacht auf, dass Olaf Scholz und andere Umfaller die Impfpflicht eben auch dafür nutzen, um von der Diskussion um eigene Fehler und vom wachsenden Frust an der Corona-Politik insgesamt abzulenken. Das ist zwar ein legitimer Grund, aber kein wirklich guter.

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