Journalismus und Politik haben nicht viel gemeinsam. Aber gewisse Ähnlichkeiten gibt es doch. In manchen Redaktionen kennt man das "Man müsste mal ..."-Phänomen. Jemand sagt in der Konferenz: "Man müsste mal eine Geschichte über dies und das machen." Alle sind begeistert, steuern Ideen bei, scharfsinnige Analysen und witzige Anekdoten. Nur wenn es darum geht, wer die Geschichte dann tatsächlich verfertigt und wie genau, haben plötzlich alle wichtige andere Dinge zu erledigen. Genau so läuft das bisher auch mit der Impfpflicht und der Politik.
Man müsste mal eine allgemeine Impfpflicht einführen - das war im November wegen der stagnierenden Impfzahlen plötzlich ein relativ breiter Konsens. Die Zustimmung in der Bevölkerung war groß, logischerweise vor allem bei den Geimpften. So eindeutig erschienen die Mehrheitsverhältnisse, dass sich auch politisches Führungspersonal für eine Impfpflicht aussprach, das vorher beteuert hatte, es solle keine geben. Das Problem des gebrochenen Versprechens wurde weginterpretiert mit Heldenepen, wonach die Fähigkeit, politische Positionen zu räumen, Ausdruck besonderer Führungsstärke sei. Geschenkt.
Einige Wochen später müsste man nun schon ziemlich lange mal eine Impfpflicht machen, die Frage ist nur: wer und wie? Es wäre natürlich zu vermuten, dass der Bundeskanzler die Sache übernimmt. Dem hatte Olaf Scholz aber schon gleich am Anfang entgegengewirkt, als er sagte, er würde einer Impfpflicht als Abgeordneter zustimmen. Der Regierungschef hat also nicht die Absicht, die Entscheidung vorzubereiten, sondern nur, sie am Ende mit zu treffen. Selbst wenn er anders wollte, ginge das nur um den Preis eines Koalitionskrachs. Denn die FDP besteht auf der 2-G-Regel: Gruppenanträge und Gewissensfrage im Bundestag.
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Fragen über Fragen
Nun müsste man also mal Gruppenanträge zur Impfpflicht machen. Einen gibt es schon: dagegen. Das Einzige, was sich sonst noch stapelt, sind Fragen über Fragen: Braucht es ein Impfregister, ja oder nein? Welche Auswirkungen hat Omikron auf die Dauer des Impfschutzes? Kann man eine Impfpflicht einführen, wenn eine Impfung alle paar Monate stattfinden müsste? Gibt es die Verpflichtung zu einem bestimmten Impfstoff? Was bringt die Impfpflicht, wenn sie erst im Frühsommer in Kraft tritt?
Ein wenig erinnert die Impfpflicht an Angela Merkels unrühmliche Corona-Osterruhe. Ein Vorhaben, beschlossen in höchster Not und als niemandem mehr etwas Besseres einfiel. Kurz danach brach alles wegen mangelnder Praktikabilität in sich zusammen. Allerdings gibt es ein paar Unterschiede: Zum einen war das Debakel um die Osterruhe peinlich, aber Merkel ersann Alternativen. So entstand die Bundesnotbremse. Wenn man jetzt Gesundheitsminister Karl Lauterbach glauben darf, bestünde die Alternative zur Impfpflicht in einer keineswegs empfehlenswerten "schmutzigen Impfung" durch Omikron, verbunden mit vielen schwer Erkrankten und Patienten mit Langzeitschäden.
Zweitens würde ein Scheitern der Impfpflicht den Impfverweigerern einen unermesslichen Triumph bescheren - und damit der gesellschaftlichen Debatte um die Pandemiebekämpfung einen entsprechenden Schaden. Und dann gibt es noch einen dritten Unterschied: Angela Merkel hat sich für die Osterruhe entschuldigt und die Verantwortung übernommen. Wenn die Impfpflicht scheitert, heißt es nach derzeitigem Stand: "Man müsste mal die Verantwortung übernehmen." Und plötzlich sind dann wieder alle weg.