Corona-Demos:Justitia als Zufallsgenerator

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Großdemo in Leipzig gegen die Corona-Politik der Bundesregierung. (Foto: Getty Images)

Mal wird eine Kundgebung mit Blick auf Corona-Auflagen geduldet, mal mit denselben Argumenten untersagt. Das kann so nicht weitergehen: Es geht schließlich um das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit.

Kommentar von Ronen Steinke

Es darf nie ein Argument gegen die Demonstrationsfreiheit sein, dass einem der Inhalt einer bestimmten Kundgebung zuwider ist. Darum heißt es ja Freiheit. Diese Freiheit gilt für alle gleichermaßen. Auch für Kritiker der Corona-Maßnahmen, auch für Wissenschaftsleugner, auch für Ressentimentgeladene. Meinungsäußerungen, über die man heftig streiten muss - dafür ist die Versammlungsfreiheit, dafür ist der Artikel 8 des Grundgesetzes gerade da.

Das ist aber auch schon das einzig Gute, was man über den derzeitigen staatlichen Umgang mit Demonstrationen in Zeiten des Infektionsschutzes sagen kann. Es liegt nicht an einem inhaltlichen Lob der Obrigkeit, wenn jetzt die Demonstration einer offenbar widerwärtigen Braunschweiger Gruppe namens "Querdenken 53" am Jahrestag des NS-Novemberpogroms unter dem Motto "Geschichte gemeinsam wiederholen" erlaubt geblieben ist.

Es liegt nicht an einem inhaltlichen Tadel der Obrigkeit, wenn für exakt denselben Abend im sachsen-anhaltischen Salzwedel eine andere Versammlung verboten worden ist, nämlich ein Gedenkakt zum 9. November mit der Holocaust-Überlebenden Esther Bejarano.

Niemand hat den Überblick - und die Verantwortung auch nicht

Begründet werden solche Verbote allein mit dem Infektionsschutz. Also mit der Sorge, ob Hygieneauflagen eingehalten werden. Dies aber geschieht in einer schon seit Monaten bundesweit derart inkohärenten Weise, dass der Schaden für die Demokratie im Ergebnis nicht viel geringer ist. Mal sagt ein Gericht: Ihr müsst Teilnehmerlisten führen. Mal sagt ein Gericht: Nein, so etwas darf es auf Demos niemals geben.

Den Überblick hat niemand, die Gesamtverantwortung auch nicht. Es ist ein verwirrendes, ein mancherorts peinliches Bild, das die kommunalen Ordnungsämter abgeben. Eine Anleitung durch eine konsistente Rechtsprechung fehlt. So wird ein Grundrecht zum Gespött.

Der Gesetzgeber muss dringend handeln

Zuletzt sagte das Oberverwaltungsgericht in Bautzen: Ein Großaufmarsch von "Querdenkern" mitten in Leipzig sei okay. Nur fünf Tage zuvor sagte der Verwaltungsgerichtshof in München das Gegenteil: Nein, eine Demo sei selbst auf einer grünen Wiese nur bei einer Beschränkung auf maximal 1000 statt 5000 Teilnehmern vertretbar.

Seitdem das Bundesverfassungsgericht im April zu Recht angemahnt hat, dass ein Verbot von Demonstrationen nicht schablonenhaft, sondern immer nur nach Würdigung des Einzelfalls ausgesprochen werden darf, regiert nicht überall derselbe Maßstab. Es regiert der Zufall. Das sollte der Gesetzgeber nicht länger ungeregelt lassen. Dafür ist das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit zu wichtig.

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