Süddeutsche Zeitung

Corona-Proteste:Lasst sie spazieren

Nicht jeder Corona-Protest führt gleich in die Finsternis. Eine selbstbewusste Demokratie weiß zu unterscheiden: Sie achtet auch die Rechte jener, die ihr fremd sind - und wehrt sich gegen jene, die sie aushöhlen.

Kommentar von Jens Schneider

Es herrscht politisch eine eigentümliche Stimmung zum Beginn des Jahres, ganz so, als ob es nicht recht beginnen will, obwohl doch Wichtiges dringend zu beraten wäre - ob es etwa eine Impfpflicht gegen Covid-19 braucht, und wie sie umzusetzen wäre. Die Öffentlichkeit schaut auf die aktuell relativ langsam steigende Inzidenzzahl in Deutschland und lässt sich auch nicht vom Hinweis aus der Ruhe bringen, dass diese Zahl ziemlich sicher täuscht, wegen unzureichender Meldungen, also einer Datenerfassung wie aus dem letzten Jahrhundert.

Ganz so, als wüsste man nicht längst, dass sich bald hierzulande abspielen wird, was sich bereits jetzt in Nachbarländern an exponentiellem Wachstum zeigt. Die Politik spielt auf Zeit, obwohl sie weiß, dass sie keine hat. Und da möchte sie sich ungern stören lassen durch inzwischen Zehntausende, die wie an diesem Montag bundesweit in ihren Spaziergängen gegen die Corona-Politik und vor allem die geplante Impfpflicht demonstrieren.

Die Proteste einer Minderheit sollten der Politik als Frühwarnsystem dienen

Es gibt eine Menge gute Gründe, sich über den häufig feindseligen Ton und den oft abstrusen Inhalt dieser Umzüge mindestens zu wundern, bei einigen auch zutiefst besorgt zu sein. Aber es ist wohl an der Zeit, sich bewusst zu machen, dass hier im Grundsatz lebendige Demokratie zum Ausdruck kommt - und dass die Proteste einer Minderheit eine Art Frühwarnsystem für die Politik sein können, so wie es Spaziergänge dieser Art schon früher oft waren.

Seit einigen Jahren ist es zu einer Mode geworden, angesichts der zunehmenden Aggressionen in der Politik mit allgemein formulierten Appellen mehr Offenheit in Debatten einzufordern. Man möge sich gegenseitig zuhören, die als falsch angesehene andere Meinung erst mal anerkennen.

Diese Appelle werden aber schnell wieder vergessen, wenn einem der Widersacher so gar nicht passt. Die aktuellen Corona-Proteste sind dabei ein geradezu exemplarischer Testfall für die Frage, was die Demokratie aushalten und würdigen sollte, und wo die Grenzen der Toleranz liegen. Es geht um das hohe Prinzip der Demokratie gerade die Rechte jener zu achten, die einem fremd sind - diese Rechte aber gegen jene zu verteidigen, die sie aushöhlen wollen.

Vertreter einer Widerstandsbewegung? So ein Quatsch

So ist es beängstigend, wie rechtsextreme Kräfte und Verschwörungstheoretiker das Thema für sich nutzen. Und gut und richtig, wenn Medien und auch der Verfassungsschutz hellwach sind. In manchen Bundesländern hat das arg lange gedauert. Es ist bizarr, dass diese diffuse Bewegung über angeblich einseitige Medien klagt, dann aber aus ihr heraus Reporter attackiert und Gespräche verweigert, Fragen mit Gebrüll beantwortet. Vieles wirkt mindestens unsympathisch, auch irrational und manches lachhaft - gerade weil nicht wenige in diesen Reihen sich als Vertreter einer Widerstandsbewegung gebärden. Sie sind weder eine Massenbewegung (Demos mit ein paar Hundert Leuten gab es bundesweit gerade vor Corona jeden Tag irgendwo), noch ist dies ein totalitärer Staat.

Aber gerade deshalb sollte niemand diese Spaziergänge dämonisieren, als führten sie zwangsläufig in die Düsternis. Hinschauen, hinhören, unterscheiden - darum geht es. Sie sind Ausdruck einer Stimmung, eine Minderheit, aber die gehört mit ihren Sorgen und Rechten dazu. Auch sie spiegeln ein Land wider, das mit großen Mühen seinen Weg aus der Pandemie sucht.

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