Süddeutsche Zeitung

Corona-Maßnahmen:Es herrschen keine DDR-Zustände

Wer Maskenpflicht und Abstandsregeln mit den Zwängen in der DDR vergleicht, verharmlost das damalige Unrecht und geht dem rechten Narrativ des widerständigen Ostdeutschen auf den Leim.

Kommentar von Antonie Rietzschel

Eigentlich sollte 2020 ein großes Jubiläumsjahr werden. 30 Jahre deutsche Einheit, ein Bürgerfest war geplant, Festmeilen. Doch wegen des Coronavirus fallen die Feierlichkeiten kleiner aus. Das passt zur Stimmung. Denn im Osten scheint viele Menschen nicht so sehr die Wiedervereinigung umzutreiben als die Furcht, man falle in die Zeit vor 1989 zurück - wegen Maskenpflicht und Abstandsregeln.

Die Angst vor angeblichen DDR-Verhältnissen ist bei den Protesten in der Lausitz präsent. Sie war es auch in Berlin, als vor einer Woche Rechte, Neonazis und Verschwörungsideologen gegen die Corona-Maßnahmen protestierten.

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Diese Angst hat nun offenbar auch einen Spitzenpolitiker der CDU befallen. Der Fraktionsvize der Union im Bundestag, Arnold Vaatz, unterstellt der Polizei DDR-Methoden, weil diese beim Zählen der Demonstrationsteilnehmer in Berlin nüchtern blieb, statt die größenwahnsinnigen Zahlen der Veranstalter zu verbreiten. In einem rechts-konservativen Magazin schreibt Vaatz von einer "dreisten Kleinrechnung", die an die politische Verunglimpfung der Proteste im Herbst 1989 erinnere. "Von Monat zu Monat lernt man mehr von der DDR."

Vaatz' Rhetorik gehört bei Pegida seit Jahren zum Standardrepertoire. "DDR 2.0", "Stasi-Methoden" - AfD und Neue Rechte haben daraus eine starke Erzählung entwickelt: die des widerständigen Ostdeutschen, der 1989 ein System stürzte und auch jetzt wieder bereitstehe. Demonstrationen werden zum Akt des Widerstands gegen "die da oben" erklärt - in der Tradition der friedlichen Revolution.

Neues Gewicht für die Erzählung von Pegida, AfD und Neuen Rechten

Hinter dieser Erzählung versammelt sich ein breites Spektrum von Menschen. Von solchen, die in der DDR gar nicht wirklich gegen das Regime aufgestanden sind, bis zu ehemaligen Bürgerrechtlern, die für Meinungsfreiheit auf die Straße gingen und viel riskierten. Wer ihnen zuhört, spürt die Enttäuschung darüber, dass sie nach der Revolution in der Bedeutungslosigkeit verschwanden. Ihnen wurde, so empfinden sie es, ein System aufgezwungen, für das sie nicht gekämpft hatten.

Auch Arnold Vaatz ist Bürgerrechtler. In der DDR musste er Zwangsarbeit leisten, später wurde er Sprecher des Neuen Forums in Dresden. Nach der Wiedervereinigung machte er Karriere. Er war Umweltminister in Sachsen, seit 22 Jahren sitzt er für die CDU im Bundestag. Wenn er nun DDR-Vergleiche zieht, verharmlost er nicht nur das Unrecht, das ihm und vielen anderen angetan wurde. Er verleiht der Erzählung von Pegida, AfD und Neuen Rechten auch neues Gewicht. Weil er als jemand gilt, der es doch wissen müsse.

So ähnlich formuliert es auch der aus Baden-Württemberg stammende CDU-Bundestagsabgeordnete Axel Fischer, der jetzt Vaatz gegen die Kritik von SPD und Grünen verteidigt. Fischer fordert dazu auf, sich mit Vaatz' Argumenten auseinanderzusetzen. Dabei liefert Vaatz gar keinen Beweis für seine Behauptungen.

Fischers Forderung folgt dem westdeutschen Reflex, die jahrelange Missachtung speziell ostdeutscher Realitäten durch Zuhören wiedergutzumachen. Dabei ist Widerspruch wichtig, vor allem gegen die Behauptung, es herrschten heute diktaturähnliche Verhältnisse. Das setzt aber voraus, dass sich Fischer und andere westdeutsche Politiker mit der Geschichte und gesellschaftlichen Dynamiken auseinandersetzen. Leider ist das auch 30 Jahre nach der Deutschen Einheit immer noch nicht selbstverständlich.

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SZ vom 10.08.2020/dit
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