Süddeutsche Zeitung

Großbritannien:Johnsons Schwäche zeigt sich immer stärker

Die Pandemie außer Kontrolle, bei den Brexit-Gesprächen in der Defensive: Über dem Vereinigten Königreich braut sich ein Sturm zusammen - und mittendrin steht ein orientierungsloser Premierminister.

Kommentar von Alexander Mühlauer

Boris Johnson ist einfach unverbesserlich. Seit Ausbruch der Corona-Pandemie macht der Premierminister Versprechen, die er nicht halten kann. Im Sommer behauptete er, das Weihnachtsfest könne wie gewohnt stattfinden. Nun, nachdem er Familien im Südosten Englands verboten hat, sich an Heiligabend zu treffen, tut er so, als ob schon zu Ostern wieder alles gut sein werde. Man kann Johnson einen uneinsichtigen Optimisten nennen; man kann aber auch sagen, dass er mit seinem Drang, die Lage immer schöner darzustellen, als sie ist, seine Landsleute in einem Ausmaß verunsichert, dass der Vertrauensverlust in die Regierung gewaltig ist.

Nein, Johnson kann nichts dafür, dass eine neue Corona-Mutation in Großbritannien aufgetaucht ist. Aber er kann etwas dagegen tun, dass sich das Virus im ganzen Land ausbreitet. Neben den Impfungen wäre es das Gebot der Stunde, Treffen an Weihnachten nicht nur in London und weiten Teilen im Südosten zu untersagen, sondern im gesamten Land. Davor scheut sich Johnson aber, müsste er doch eine weitere Kehrtwende vollziehen, die einmal mehr sein Unvermögen offenbart, besonnen und ernsthaft zu agieren.

Die Leute scheren sich nicht um die Vorschriften, weil die Regierung dies oft auch nicht tut

Stattdessen lässt er zu, dass Menschen die Hauptstadt fluchtartig verlassen, um in überfüllten Zügen dorthin zu fahren, wo sie sich noch mit Verwandten an Heiligabend treffen dürfen. An Johnsons Aufforderung, zu Hause zu bleiben, halten sich viele schlichtweg nicht - auch deshalb nicht, weil die Regierung bewiesen hat, dass sie sich selbst nicht an die Vorschriften hält. Man erinnere sich nur an Johnsons ehemaligen Chefberater, der mitten im ersten Lockdown zu seiner Familie in Nordengland fuhr.

Bereits zu Beginn der Pandemie im Frühjahr hat der österreichische Skiort Ischgl gelehrt: Das Virus kennt keine Grenzen. Dass Grenzen aber helfen können, die Seuche in Schach zu halten, muss Johnson jetzt auf besonders schmerzhafte Art und Weise erfahren. Die Entscheidung von Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron, den Verkehr über den Ärmelkanal wegen der neuen Virusmutation weitgehend zu stoppen, hat den Premier kalt erwischt. Und damit nicht genug: Weltweit haben gut 40 Staaten Flugzeugen aus Großbritannien das Landerecht versagt.

Und der Premier schwafelt vom florierenden Großbritannien

Über dem Vereinigten Königreich zieht ein perfekter Sturm auf - und mittendrin ist ein Premier, dessen Schwäche sich immer stärker zeigt. Besonders deutlich wird das jetzt, wenige Tage vor dem Brexit. In den Verhandlungen mit Brüssel befindet sich Johnson in einer äußerst schlechten Position. Seit Beginn der Gespräche war die EU qua ihrer Wirtschaftskraft am längeren Hebel. Doch jetzt, im Licht der Blockade am Ärmelkanal, ist der Premier so erpressbar wie nie zuvor. Macron weiß das. Es kommt jetzt darauf an, dass der französische Präsident die Krise am Kanal nicht eskalieren lässt.

Gelingt es nicht, in den Tagen bis zum 31. Dezember einen Vertrag über die künftigen Beziehungen mit der EU zu schließen, kommt es zu Zöllen und Zollkontrollen. Wo sich jetzt 1000 Lkws auf der Autobahn nach Dover stauen, dürften dann recht schnell bis zu 7000 Schlange stehen. So steht es zumindest in einem Worst-Case-Szenario der britischen Regierung.

Johnson sollte jetzt endlich damit aufhören, wie noch am Montagabend davon zu schwafeln, dass Großbritannien auch im Fall eines No-Deal-Brexit "prächtig florieren" werde. Es ist höchste Zeit, dass er sein Versprechen einlöst und einen Deal mit Brüssel schließt. Alles andere wäre, wie Johnson selbst so richtig gesagt hat, ein Scheitern von Staatskunst.

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