Süddeutsche Zeitung

Steigende Corona-Zahlen:Angst ist nicht angebracht, Umsicht schon

Es ist keine Panikmache, realistisch über die Gefahren der Pandemie zu informieren. Aber es ist jetzt wichtiger denn je, dass die Verantwortlichen den richtigen Ton treffen.

Kommentar von Christina Berndt

Wer weiß, was eine Exponentialfunktion ist, hat in Deutschland derzeit keinen guten Stand. Er wird als Mahner, Panikschürer oder Angstmacher verunglimpft, nur weil er rechnen kann. Der heutige Tag hat es wieder bewiesen: Die Zahl der Neuinfektionen hat mit einem Schlag nie dagewesene Höhen erreicht. Mehr als 11 000 Neuinfektionen mit Sars-CoV-2 - so viele wurden seit Beginn der Pandemie noch nie an einem Tag festgestellt.

Dass die Entwicklung genau da hingeht, darauf weisen kluge Leute seit Wochen hin. So wie Karl Lauterbach (SPD), der Ende September in einer Talkrunde von seinen Mitdiskutanten heftig angegangen wurde, als er 7500 tägliche Neuinfektionen für die kommenden Wochen vorausberechnete (und damit vollkommen richtiglag). "Das ist keine Warnung. Das ist Panikmache!", warf ihm der Schauspieler Dieter Hallervorden entgegen, "die Leute brauchen Hoffnung!" Und der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, sagte diese Woche noch, man solle "den Menschen nicht in einer Tour Angst machen".

Zweifellos ist Angst ein extrem unangenehmes Gefühl - und meist ein schlechter Ratgeber. Insofern stimmt es, dass Politiker und Epidemiologen den Menschen keine Angst einjagen sollten. Es gibt aber einen feinen Unterschied zwischen Angst machen und informieren. Wenn also die Entwicklung der Sars-CoV-2-Infektionen gerade höchst unerfreulich verläuft, ja fast schon beängstigend, dann kann man dies nicht in beruhigende Worte packen. Was für eine Gesellschaft aus medizinischer, wirtschaftlicher und bildungspolitischer Sicht bedrohlich ist, muss man auch so benennen. Alles andere mag angenehmer sein. Richtig ist es nicht.

Selbstverständlich kann und sollte man dabei wesentliche Regeln der Problem- und Risikokommunikation beachten. Ein ständig erhobener Zeigefinger ist kontraproduktiv. Dauerdruck lässt selbst jene Menschen abstumpfen, die für Mahnungen empfänglich sind. Und Menschen, die ohnehin überfordert sind mit der aktuellen Situation, verliert man mit immer größeren Drohkulissen nur noch mehr an die Querdenker, die sich sagen, das Virus sei ja gar nicht so schlimm; schlimm seien nur die Regierungen mit ihrem Machtanspruch und ihren Maßnahmen.

Es ist also wichtig, den richtigen Ton zu treffen - und die Stoßrichtung anzupassen. Eine wesentliche Strategie dabei muss sein, die Menschen mit sachlichen Argumenten zu überzeugen. Ihnen Fakten zu präsentieren und die wahrscheinlichen Szenarien nüchtern vorzurechnen. Dabei kann man an die Solidarität mit den Älteren appellieren. Aber ebenso wichtig ist es aufzuzeigen, was die voraussehbare Entwicklung für das Leben aller bedeuten wird.

Gerichtet an die Jungen heißt das, ihnen immer wieder zu sagen: Auch ihr könnt krank werden und Spätschäden davontragen - und ihnen dafür Beispiele vor Augen zu führen. Und wenn die Infektionszahlen so sehr steigen, dass drastischere Maßnahmen nötig werden bis hin zu Geschäfts- und Restaurantschließungen, dann wird das auch die junge Generation treffen. Ihre Ausbildungschancen, ihre finanziellen Möglichkeiten, ihre Freiheit.

Ebenso wichtig ist es aber auch, Lösungen zu präsentieren. Die Menschen sind ja nicht hilflos. Jeder Einzelne kann etwas gegen das Virus tun - an jedem neuen Tag und durch so einfache Dinge wie Abstandhalten und Verzicht. Habt keine Angst, aber seid umsichtig, muss die Botschaft deshalb lauten. Tut es für die Alten, und für euch selbst. Schlau ist nicht, wer jetzt Partys feiert. Schlau ist, wer Exponentialfunktion kann und weiß, wie man eine Maske richtig trägt.

Eines jedenfalls darf auf keinen Fall passieren: Dass die Verantwortlichen selbst Angst kriegen - nämlich Angst davor, auf die Folgen einer weiteren Virus-Ausbreitung hinzuweisen.

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