Süddeutsche Zeitung

China:Das Exempel an Wong steht für die Zerstörung Hongkongs

China hat die Freiheit in der Sonderverwaltungszone abgeschafft. Das Sicherheitsgesetz steht zudem für Pekings Vorhaben, weltweit eigene Spielregeln zu etablieren und internationales Recht zu schwächen.

Kommentar von Lea Deuber, Peking

Die Stabilität der Gesellschaft sei wiederhergestellt, die nationale Sicherheit geschützt. Als "einfache Wahrheit" hat Hongkongs Regierungschefin Carrie Lam jüngst ihre Sicht auf die Stadt bezeichnet. Joshua Wong war da noch nicht weggesperrt. Die Regierungschefin dürfte aber auch an sein Verfahren gedacht haben.

An diesem Mittwoch kam nun die Entscheidung. Der bekannte Aktivist, der weltweit eines der bekanntesten Gesichter der prodemokratischen Protestbewegung in der chinesischen Sonderverwaltungszone ist, muss für dreizehneinhalb Monate ins Gefängnis.

Wenn Lam von Sicherheit und Stabilität spricht, meint sie diese neue Realität in Hongkong: Fast jeden Tag werden seit Inkrafttreten des Sicherheitsgesetzes in diesem Sommer Aktivisten verschleppt, Journalisten und Politiker verhaftet. Mit neuen Fächern sollen Schüler zu Partei-Patrioten erzogen werden, den Zeitungsmacher Jimmy Lai haben sie aus seiner eigenen Redaktion abgeführt. Proteste werden verboten, die Parlamentswahl ist abgesagt, seit November gibt es im Parlament nicht einmal mehr eine Opposition. Die Behörden haben an Wong ein Exempel statuiert. Er steht aber für Tausende Festgenommene, er steht für die Zerstörung einer Stadt.

Das Sicherheitsgesetz geht weit über Chinas Strafgesetzbuch hinaus

Das Sicherheitsgesetz bedeutet nicht nur das Ende der Wirtschaftsmetropole, in der Bürger und Unternehmen einst sicher waren vor den Zugriffen und der Willkür des chinesischen Systems, wie es bisher nur in Festlandchina existierte. Sondern das Gesetz ist auch ein Novum, das weit über das chinesische Strafgesetzbuch hinausgeht.

So erlaubt es, auch Handlungen außerhalb der Sonderverwaltungszone strafrechtlich zu verfolgen. Bestraft werden können auch Menschen, die keinen Wohnsitz in Hongkong haben. Womöglich nie da waren. Also auch Journalisten, die außerhalb Hongkongs über die Stadt schreiben.

Wer künftig nach Hongkong reist oder in ein Land, das ein Auslieferungsabkommen mit der Sonderverwaltungszone unterhält, dem droht die Verhaftung. Es widerspricht internationaler Praxis, ist ein Angriff auf die Freiheit von Menschen weltweit. Und doch haben bei der Generaldebatte der Vereinten Nationen jüngst mehr Staaten das Sicherheitsgesetz als innere Angelegenheit Chinas unterstützt als kritisiert. Die liberalen, demokratischen Staaten sind im Umgang mit Peking längst in der Unterzahl, Chinas Schergenpolitik entfaltet seine Macht.

Das Gesetz steht einmal mehr für Pekings Vorhaben, weltweit eigene Spielregeln zu etablieren und internationales Recht zu schwächen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat das Sicherheitsgesetz im Juli einen doppelten Völkerrechtsbruch genannt. Auch in Brüssel zeigte man sich unzufrieden. Der deutsche Außenminister Heiko Maas traf sich vor Inkrafttreten des Gesetzes sogar mit Wong. Passiert ist seitdem empörend wenig.

Auch Wongs Inhaftierung dürfte keine größeren Konsequenzen nach sich ziehen als ein paar mahnende Worte Richtung Peking. Dabei steht kaum jemand so für Hongkongs Widerstand gegen den autokratischen Parteienstaat - und für den Glauben daran, dass allen Menschen Grundrechte zustehen. Unabhängig davon, in welchem Hoheitsgebiet, unter welcher Regierung sie geboren wurden. Wong hat Chinas Vorgehen in Hongkong als das beschrieben, was es ist: nicht ein Sonderfall, sondern ein Symptom für das Verhalten des chinesischen Parteienstaats, wie es sich an immer mehr Orten der Welt zeigt.

Doch während Wong seine Haftstrafe antritt und China vor den Augen der Welt das internationale Abkommen bricht, das es einst bei der Übergabe der früheren britischen Kronkolonie unterschrieben hat, die chinesisch-britische Gemeinsame Erklärung, arbeitet die EU unter deutscher Ratspräsidentschaft am Abschluss eines neuen Abkommens mit China. Bald könnte das "Investitionsabkommen" unterzeichnet werden. Ein Wirtschaftsabkommen, das sieben Jahre am Widerstand Chinas scheiterte.

Pekings unmoralisches Angebot

Jetzt sei der politische Willen auf beiden Seiten da, sagte Kanzlerin Angela Merkel jüngst. Sie meinte: Chinas Wille. Die jüngsten Bemühungen Pekings sind weniger ein Zeichen guter Partnerschaft als vielmehr eines von Chinas Erkenntnis, dass der Wahl des neuen US-Präsidenten Joe Biden ungemütlichere Zeiten folgen könnten. Das Abkommen ist ein Angebot an die EU, Handel und Wirtschaft über Werte und demokratische Allianzen zu stellen.

Eines muss man über das chinesisch-britische Abkommen von 1984 wissen: Es war ein schrecklich widersprüchliches Dokument mit vielen Schlupflöchern. Womöglich war Großbritannien zu optimistisch, vielleicht auch naiv: Es hat darauf vertraut, dass Peking sich an ein internationales Abkommen gebunden fühlt. Dieses Vertrauen hat China gebrochen.

Dass die EU und ihre Mitgliedstaaten bisher an ihren Plänen für ein Investitionsabkommen festhalten, ist ein fatales Signal. Ein Abschluss würde Peking erneut zeigen, dass es nichts zu befürchten hat. Hongkong hat das bereits bewiesen.

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