Chile:Hipper Hoffnungsträger

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Der 36 Jahre alte Gabriel Boric hat am Freitag das Amt des Präsidenten übernommen; es ist ein Aufstieg, der Millionen Menschen in Chile und ganz Lateinamerika fasziniert. (Foto: Juan Eduardo Lopez/Imago/Aton Chile)

Gabriel Borics eindrücklicher Aufstieg zum Staatschef ist eine demokratische Erfolgsgeschichte. Und sie weckt Erwartungen - in ganz Lateinamerika.

Von Benedikt Peters, München

Gerade in diesen Tagen, in denen Europa im Bann des Krieges steht, lohnt ein Blick nach Chile. Wer Putins Panzer auf Kiew vorrücken sieht, den überkommt zu Recht die Angst, dass die Demokratie von Despoten existenziell bedroht ist. Auch in diesen dunklen Stunden aber gibt es noch demokratische Erfolgsgeschichten. Eine solche vollzieht sich gerade in der chilenischen Hauptstadt Santiago.

Der 36 Jahre alte Gabriel Boric hat am Freitag das Amt des Präsidenten übernommen; es ist ein Aufstieg, der Millionen Menschen in Chile und ganz Lateinamerika fasziniert. Boric ist hip, jung, bärtig, tätowiert - aber die Ursachen der Faszination in seinem Erscheinungsbild zu suchen, wäre zu oberflächlich. Es ist vielmehr seine persönliche Geschichte, die - ausgerechnet in Chile, ausgerechnet in Lateinamerika - davon erzählt, dass man viel bewegen und nahezu alles erreichen kann, wenn man für seine Ziele kämpft, und zwar mit den Mitteln der Demokratie.

Das Trauma der Diktatur hat Chile bis heute nicht abgeschüttelt. 1973 putschte der General Augusto Pinochet gegen den demokratisch gewählten sozialistischen Präsidenten Salvador Allende. Pinochet ließ Andersdenkende verfolgen und verordnete dem Land ein ultraliberales Wirtschaftssystem, das auch nach dem Übergang zur Demokratie erhalten blieb; bis heute sind Renten, Schulen, Krankenhäuser, sogar die Wasserversorgung weitgehend privatisiert. Manchen brachte das Wohlstand, aber längst nicht allen. Der Unterschied zwischen Arm und Reich ist in wenigen Ländern so groß wie in Chile.

In den Nullerjahren begannen immer mehr Chilenen, dagegen aufzubegehren. Sie gingen auf die Straße, und in dieser Zeit entspann sich Borics demokratische Erfolgsgeschichte. Seit 2011 führte er als Kopf der Studentenbewegung den Protest an, zwei Jahre später spülte ihn seine Popularität als unabhängigen Kandidaten ins Parlament. 2019, als die nächsten, noch heftigeren Proteste ausbrachen, verhandelte er einen Kompromiss mit der Regierung: Ein Konvent arbeitet seitdem an einer neuen, gerechteren Verfassung, sie soll bald den Chilenen zur Abstimmung vorgelegt werden. 2021 schließlich wurde Boric Kandidat für die Präsidentschaftswahl - und gewann.

Seine Geschichte verfängt in ganz Lateinamerika, weil dort beinahe überall vor Wahlen gezittert wird: Droht ein Putsch? Fälscht jemand die Ergebnisse? Ändert einer handstreichartig die Verfassung? In Brasilien liebäugelt der Rechtsaußen-Präsident Jair Bolsonaro mit der Militärdiktatur, in El Salvador gibt es ebenfalls autoritäre Tendenzen von rechts, die vermeintlich linken Regierungen Venezuelas und Nicaraguas haben ihre Länder längst in Autokratien verwandelt.

Boric hingegen ist, nach allem, was er bisher getan und angekündigt hat, ein überzeugter Sozialdemokrat. Er will den Zugang zu Schulen und Universitäten kostenlos machen und eine gute staatliche Rente und Gesundheitsversorgung schaffen - und er hat, anders als viele der linken lateinamerikanischen Caudillos, Putins Überfall harsch verurteilt.

Dieser Staatschef weckt riesige Hoffnungen. Die größte lautet, dass er den Neoliberalismus endlich überwinden kann. Das allerdings wird viel Geld kosten, ausgerechnet in einer Zeit, in der die Wirtschaft von der Pandemie gebeutelt und die Gesellschaft gespalten ist. Ein riesiger Berg an Arbeit liegt vor ihm.

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