"Kenne dein Publikum", diese Regel aus dem Rhetorikseminar scheint sich Armin Laschet zu sehr zu Herzen genommen zu haben. Bei einer Online-Veranstaltung des baden-württembergischen CDU-Wirtschaftsrats moserte der Parteichef am Corona-Kurs herum, den er vor einer Woche selbst noch mitgetragen hatte: Die Haltung, alles zu verbieten und Bürger wie unmündige Kinder zu behandeln, sei ja gerade populär. Im Hinblick auf den Inzidenzwert 35 sagte Laschet noch, man könne "nicht immer neue Grenzwerte erfinden, um zu verhindern, dass Leben wieder stattfindet". Das sind Worte, die den wirtschaftsnahen Parteikollegen in Baden-Württemberg gefallen haben mögen. Erstaunlich sind sie trotzdem.
Das Klagen über eine vermeintliche Bevormundung der Bürger, die Kritik an angeblich erfundenen Grenzwerten: Laschet muss wissen, dass eine solche Wortwahl vor allem jenen neue Argumente verschaffen wird, die schon länger eine Corona-"Diktatur" an der Macht wähnen. Dass die Grenzwerte nicht etwa wissenschaftlich abgeleitet, sondern rein willkürlich gewählt seien, um die Bürger unter Kontrolle zu halten, gehört zum fast schon klassischen Repertoire der Verschwörungsmythos-Verbreiter.
Wer von "Grenzwerte erfinden" schwadroniert, obwohl die kritischen Inzidenzwerte 35 und 50 seit Langem im Infektionsschutzgesetz stehen, beweist entweder seine Ignoranz oder redet seinem vermeintlichen Publikum allzu heftig nach dem Mund. Wer vergangene Woche noch die Verlängerung der Corona-Einschränkungen verteidigt, jetzt aber schon wieder einen "Kipppunkt" vor sich sieht, wirbt nicht sehr überzeugend für Geduld oder Verständnis. Wer noch vor wenigen Tagen von einer "harmonischen Ministerpräsidentenkonferenz" gesprochen hat, um nun an einstimmig verabschiedeten Beschlüssen herumzumäkeln, riskiert seine Glaubwürdigkeit.
Dem Parteichef und möglichen Kanzlerkandidaten hört nun ganz Deutschland zu. Er sollte sich bemühen, eine Haltung anzunehmen - und nicht zwei.