An diesem Montag hat die Partei Die Linke ein Arbeitsprogramm für die ersten 100 Tage nach der Wahl im Bundestag beschlossen. Das ist einerseits eine Formalie, alle Parteien haben Pläne für die neue Legislaturperiode. Das ist im Fall der Linken aber mittlerweile so viel mehr als eine Formalie, sie präsentieren sich angriffslustig und selbstbewusst, weil sie wissen, dass manches in diesem Papier tatsächlich Politik werden könnte.
Noch vor wenigen Wochen wäre ein Arbeitsprogramm der Linken für den Bundestag ebenso realitätsfern gewesen wie eine Auflistung der Dinge, die die Menschheit als Erstes tun will, wenn sie in zwei Jahren die Sonne besiedelt, weil es nämlich so aussah, als würde sich die Linke eher auflösen als in den Bundestag einziehen. Das Programm hätte ebenso große Chancen auf Umsetzung gehabt wie das der Tierschutzpartei.
Noch mal schnell zur Erinnerung, die Lage der Linken im Herbst: bei drei Landtagswahlen in Ostdeutschland fürchterliche Niederlagen erlitten; Umfragen zur Bundestagswahl allesamt miserabel, manchmal sogar unter drei Prozent. Erfreulich: Dauernd treten neue Mitglieder ein. Unerfreulich: Die Umfragen sind dennoch in Beton gegossen. Was tun?
In der Parteizentrale träumen sie heimlich von sieben Prozent
Ein Plan war, die Parteiveteranen Gregor Gysi, Dietmar Bartsch und Bodo Ramelow noch einmal in den Wahlkampf zu schicken. Das Ganze wurde selbstironisch zur „Mission Silberlocke“ erklärt. Auf drei ältere Herren zu setzen, war vielleicht nicht die optimale Taktik für eine Partei, die sich als vielfältig und progressiv versteht, aber was sollte man machen? Immerhin hat die Aktion mediale Aufmerksamkeit generiert. Ein zweiter Plan war, konsequent über zu hohe Lebenshaltungskosten zu sprechen, vor allem über Miet- und Heizkosten. Ein dritter Plan war: nun ja, in Anbetracht der Umstände, das Hoffen auf ein Wunder.
Dieses politische Wunder hat stattgefunden. Plötzlich ging es der Partei wie der Besatzung eines Segelschiffs, die in einer ewigen Flaute festsaß, nun aber eine Brise spürt. Leicht nur wehte sie zunächst, in den Umfragen stand eine Vier vor dem Komma. Stärker wurde der Wind, in den Umfragen stand bald eine Fünf vor dem Komma, und zuletzt bisweilen sogar eine Sechs. In der Parteizentrale träumen sie heimlich von der Sieben.
Es ist die erstaunlichste Entwicklung in diesem ansonsten überraschungsfreien Wahlkampf
Bemerkenswert ist, dass dieser Aufschwung bereits begonnen hatte, als CDU-Chef Friedrich Merz sich kürzlich im Bundestag für einen Antrag eine Mehrheit mit der AfD besorgte. Von diesem Vorgang hat die Linke dann noch einmal profitiert, weil der Antifaschismus zu ihrem Markenkern gehört. Die emotionale Rede, mit der die Spitzenkandidatin Heidi Reichinnek auf Merz’ Vorgehen reagierte, wurde zum viralen Hit, seither kann sich die Partei vor neuen Mitgliedern kaum retten.
Das ist die wohl erstaunlichste Entwicklung in diesem ansonsten überraschungsfreien Wahlkampf. Eine einzige, schlüssige Erklärung gibt es nicht dafür. Waren es doch die Silberlocken? Ist es die auf sozialen Medien allgegenwärtige Reichinnek? Gibt es einen Zufluss von enttäuschten Grünen-Wählern? Ist es der Weltgeist?
Was auch immer im Einzelnen hinter dem Aufschwung steckt, er ist aus einem einfachen Grund zu begrüßen: Selbst wenn man nicht mit den Positionen der Linken übereinstimmt, kann man es als Bereicherung der parlamentarischen Vielfalt ansehen, wenn im voraussichtlich sehr konservativen nächsten Bundestag eine demokratische Partei sitzt, die links von der SPD angesiedelt ist.