Süddeutsche Zeitung

Wahlkampf:Zeit, sich wieder ordentlich zu streiten

Der Wahlkampf ist bisher deprimierend inhaltsleer und hat so wenig mit den Problemen der Menschen zu tun. Muss das so sein? Aber nein, brennende Themen gibt es zur Genüge.

Kommentar von Joachim Käppner

Die Vorstellung ist nicht ohne Reiz: Künftige Historiker, sagen wir in 100 Jahren, nähmen den deutschen Wahlkampf 2021 unter die Lupe. Sie müssten wohl annehmen, es habe sich um eine recht unbeschwerte und sorgenfreie Zeit gehandelt. Zumindest, so die Hypothese, schien der Wahlkampf seltsam unberührt von all den Problemen zu sein, welche die Welt seinerzeit plagten; Seuchen, Klimawandel und Naturkatastrophen, Bedrohung der Demokratie und Zukunftsängste. Aus Gründen, die mentalitätsgeschichtlich noch der Erforschung bedürften, haben sich die Menschen 2021 offenbar vor allem mit der Frage beschäftigt, wer irgendwann eine halbe Seite von einem Buch ins andere kopiert oder ein falsches Wort ausgesprochen habe.

Der Wahlkampf 2021 ist, um in die Gegenwart zurückzukehren, verstörend inhaltsleer. Ihn prägen Aufregerthemen, die ihre Berechtigung haben mögen und auf Twitter die üblichen Verdächtigen umtreiben, leider aber mit den Problemen und Alltagssorgen der meisten Wählerinnen und Wähler kaum etwas zu tun haben: das N-Wort, überschaubare Plagiatsaffären, ein Augenblick törichten Gekichers im Flutgebiet.

Die politische Kultur verkommt, wenn sich die Diskussion nur um Luxusprobleme dreht

Für den Zustand der deutschen Demokratie mag das noch kein großes Drama sein, aber es ist vielleicht der Beginn eines solchen. Wenn Luxusprobleme, wie sie die meisten anderen Nationen sehr gern hätten, einen Wahlkampf dominieren, bekommt die politische Kultur ein Problem. Die Begründung, dies erkläre sich daraus, dass sich die demokratischen Parteien und ihre Programme immer ähnlicher werden, ist nicht ganz falsch, greift aber viel zu kurz. Nicht einmal das sehr wahrscheinliche Ende der großen Koalition befeuert diesen Wahlkampf inhaltlich - obwohl neue Konstellationen kommen dürften, Schwarz-Grün als derzeit wahrscheinlichste, und mit ihnen neue Debatten um den politischen Kurs der Republik.

Dabei bliebe so viel, worüber Streit lohnte, sogar sehr nötig wäre: Soll die Politik dem Kampf gegen die nahende Klimakatastrophe Priorität geben, wie es die Grünen gerade verlangen? Oder muss man zuerst an die Wirtschaft denken, wie es Unionskanzlerkandidat Armin Laschet mehr oder weniger offen ausspricht? Wie umgehen mit den USA unter Joe Biden, dem all die warmen Worte aus Berlin nicht genügen, weil er die Bundesrepublik für seine Allianz der Demokratien gegen autoritäre Systeme und vor allem das neototalitäre China in die Pflicht nehmen will? Wie sieht Verteidigungspolitik künftig aus? Was bedeuten die Renten- und Steuerpläne der Parteien praktisch? Wie will eine künftige Bundesregierung den digitalen Wandel, die inneren und äußeren Herausforderungen der EU, die Probleme von Rassismus und Integration, die Krise des Schulsystems meistern, wie die Verarmung der sozial Schwachen stoppen?

Das alles sind drängende Aufgaben, für welche die Parteien doch teils sehr unterschiedliche Konzepte haben. Man muss sich eben dafür interessieren. Der jetzige Nonsens-Wahlkampf tut das nicht. Zu den tristen Gründen dafür gehört die Verwechslung von Social-Media-Obsessionen mit der Realität, aber auch die Kurzsichtigkeit von Medien, Interessenverbänden und auch Politikern, welche die Themen der Ablenkung vom Wesentlichen immerfort bedienen. Es wird Aufgabe der Bürger sein, sie am Wahltag an die Verantwortung einer erwachsenen Demokratie zu erinnern.

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