Süddeutsche Zeitung

Nordirland:Dann eben der grobe Keil

Die britische Regierung eskaliert den Konflikt mit der EU um die Zollgrenzen, weil sie von ihren Problemen nach dem Brexit ablenken will. Das wird Europa nicht dulden können.

Kommentar von Stefan Kornelius

Britische Verhandlungstechniken sollten der EU-Kommission nach mehr als fünf leidvollen Jahren hinlänglich bekannt sein. Und dennoch ist es immer wieder bemerkenswert, mit welcher Selbstverständlichkeit die Regierung Johnson Verabredungen in Frage stellt, denen sie gerade noch zugestimmt hatte.

Die Mutter aller Absprachen zum Austritt aus der EU betrifft den komplizierten Fall Nordirland. Hier hatte die Regierung von Boris Johnson eine Zollgrenze in der Irischen See akzeptiert, um eine harte Landesgrenze zwischen Nordirland und der Republik Irland zu vermeiden. Harte Landgrenzen könnten schnurstracks zu einer Eskalation zwischen Unionisten und Republikanern in Nordirland führen und mithin in Gewalt münden.

Der nationale Furor lässt sich gut bedienen

Allerdings haben die vergangenen Monate gezeigt, dass die Zollgrenze auf See wenig praktikabel ist. Bürokratische Einfallslosigkeit und der Unwille zur Umsetzung der Vereinbarung haben die Regierung in Nordirland destabilisiert, die Belieferung der Supermärkte behindert und den Warenverkehr insgesamt beschädigt. Natürlich geht den britischen Händlern ein etabliertes Liefergebiet verloren - und dies im nationalen Territorium. Johnson wäre nicht Premierminister, wenn er mit diesem Futter nicht den nationalen Furor bedienen würde.

Nun gibt es zwei Wege zur Lösung des Problems: den europäischen und den britischen. Die EU-Kommission zerlegt die Beschwerden in einzelne Portionen und schlägt vor, praktische Lösungen etwa für die Versorgung mit Waren des täglichen Bedarfs, für medizinische Güter oder die Kontrolle von Agrar- und Fleischprodukten zu verabreden. Der britische Vorschlag ist deutlich robuster, öffentlicher und ideologischer. Die Johnson-Regierung würde am liebsten die Nordirland-Klausel insgesamt schleifen (ohne freilich eine harte Landgrenze zu akzeptieren), weil sie diesen Teil des Brexit-Abkommens plötzlich als Eingriff in ihre Souveränität versteht und die Gelegenheit nutzen will, die juristische Ansiedelung des Konflikts beim Europäischen Gerichtshof in Frage zu stellen. Für die EU ein Tabu, weil die Logik des Binnenmarkts eine überwölbende Rechtsinstanz erzwingt.

Es geht wohl vor allem um ideologische Lufthoheit

Nun kommt zur britischen Verhandlungstaktik, dass sie schnell mit einer Schuldzuweisung zur Hand ist. So wird der EU gleich die gesamte Verantwortung für die Destabilisierung Nordirlands zugeschoben, inklusive aller Versorgungsschwierigkeiten. Forderung wird auf Forderung gepackt, ohne die Antwort der Kommission abzuwarten, so dass sich der Eindruck verfestigt, dass es der Regierung Johnson vor allem um ideologische Lufthoheit zu Hause geht.

Dieser Verhandlungsstil war schon während der heißen Brexit-Phase die größte Irritation für Brüssel. Auch heute gehört zur Einsicht, dass die Form der öffentlichen Auseinandersetzung durch den britischen Unterhändler David Frost die Verhältnisse ins Absurde dreht und die EU als Täter erscheinen lässt, obwohl sie Getriebene des britischen Nationalismus ist.

Es war Boris Johnson, der die Nordirland-Klausel unterzeichnete, nachdem er den Machtkampf mit Theresa May mit der exakt entgegengesetzten Position gewonnen hatte. Und es ist die Johnson-Regierung, die auch weiterhin einen Sündenbock braucht, um von den gravierenden Post-Brexit-Problemen des Landes abzulenken. Wenn der letzte Besänftigungsversuch nun scheitert, wird die EU nicht weiter vornehm schweigen können. Manchmal verlangt ein grober Klotz den groben Keil.

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