Süddeutsche Zeitung

Brasilien:Eine entscheidende Wahl

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Am Sonntag wählt Südamerikas größte Demokratie einen neuen Präsidenten. Der Wahlausgang wird Folgen haben für die ganze Welt.

Kommentar von Christoph Gurk

Rund 9500 Kilometer Luftlinie sind es von Berlin bis nach Brasília, einmal quer über den Äquator, auf die andere Seite der Welt. Gleich mehrere Zeitzonen liegen zwischen der deutschen und der brasilianischen Hauptstadt, und zwischen den beiden Ländern liegt ein ganzer Ozean.

Am Sonntag wählt Brasilien nun einen neuen Präsidenten, der rechte Amtsinhaber Jair Bolsonaro tritt an, ebenso wie der linke Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva. Eine Jahrhundertwahl, so viel ist klar, die aber eben auch weit entfernt ist, weshalb man in Deutschland durchaus denken könnte: Na und? Geht doch mich nichts an. Doch das wäre ein Fehler.

Denn trotz aller Entfernung verbindet Deutschland und Brasilien viel. Einmal historisch und kulturell: Brasilien ist ein Einwanderungsland, die Vorfahren vieler Menschen kommen auch aus Sachsen oder Hamburg, vom Bodensee oder aus Bayern. Viele Brasilianer sind stolz auf dieses Erbe, und nach dem Karneval in Rio de Janeiro gilt das Oktoberfest im südbrasilianischen Blumenau als das größte Volksfest des Landes.

Allein in São Paulo haben 1000 deutsche Firmen einen Sitz

Seit mehr als 100 Jahren gibt es auch enge wirtschaftliche Beziehungen. Allein in Brasiliens größter Metropole São Paulo haben fast 1000 deutsche Firmen einen Sitz, viele mit eigenen Fabriken, die teilweise für die komplette Region produzieren. Manch Unternehmenschef feierte, als Bolsonaro vor vier Jahren an die Macht kam. Heute aber ist klar, dass viele seiner wirtschaftsfreundlichen Versprechungen nie Realität geworden sind. Bürokratische Hürden wurden nie abgebaut, die Inflation war in der ersten Jahreshälfte so hoch wie seit Jahrzehnten nicht mehr, und statt eines verlässlichen Partners gilt Bolsonaro heute eher als Risikofaktor.

Trotz aller Krisen ist Brasilien aber immer noch die größte Volkswirtschaft Südamerikas. Mehr als 210 Millionen Menschen leben in dem Land, dazu gibt es riesige Rohstoffvorkommen. Metalle, Nahrungsmittel, Gas und Öl: Brasilien kann viel von dem liefern, was heute weltweit durch Russlands Krieg in der Ukraine knapp geworden ist. Allein schon aus ganz egoistischen Motiven sollte man das Land also nicht vernachlässigen.

Und natürlich ist da auch noch der Amazonas-Regenwald. Unter Bolsonaro wurde so viel abgeholzt, wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Schutzbehörden wurden Gelder gekürzt, und allzu engagierte Mitarbeiter wurden kurzerhand entlassen. Landbesetzer und Goldsucher wissen, dass sie heute kaum noch etwas zu befürchten haben, wenn sie Wälder für ihr Vieh abfackeln und Urwaldboden aufreißen auf der Suche nach Schätzen.

Der Amazonas gilt als grüne Lunge der Erde und als eines der wichtigsten Stellräder im Kampf gegen den Klimawandel. Dass Brasilien in den vergangenen Jahren unter schweren Dürren litt, könnte auch daran liegen, dass feuchte Luftströme durch den Kahlschlag durcheinandergekommen sind, glauben Wissenschaftler. Sie warnen, das Gebiet könne vor einem Kipppunkt stehen: Sollte noch mehr abgeholzt werden, sei der Regenwald irgendwann nicht mehr in der Lage, aus sich heraus ausreichend Feuchtigkeit zu produzieren. Aus dem Dschungel würde dann Savanne, mit unkalkulierbaren Folgen für das Klima.

Wenn Südamerikas größte Demokratie am Sonntag einen neuen Präsidenten wählt, kann man je nach Ergebnis jubeln oder den Kopf schütteln. Nur eines sollte man nicht: mit den Schultern zucken. Dafür ist Brasilien zu wichtig, egal wie weit das Land von Deutschland entfernt ist.

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