Süddeutsche Zeitung

Bildung:Kinder in Not

Schüler und Schülerinnen, die schon vor der Pandemie benachteiligt waren, sind es jetzt besonders. Der Bund könnte ihnen leicht helfen - das Geld dazu jedenfalls ist da.

Gastkommentar von Jutta Allmendinger

Endlich. Fast alle Bundesländer unterrichten wieder in Präsenz, fünf Tage die Woche. Eltern, vor allem Mütter, können so auf ein wenig Zeit für sich selbst und planbare Arbeitstage hoffen.

Ohne starke Lobby versandeten die Nöte junger Eltern und Kinder stets aufs Neue, wenn um Hilfsmilliarden gerungen wurde. Mit einschneidenden Folgen für die Bildungs- und Lebensverläufe Hunderttausender Kinder: Schulverwaltungen berichten von fehlenden Abschlüssen, gescheiterten Schulübergängen und gravierenden Wissenslücken; Kinderärzte und Jugendmedizinerinnen von sozialer Isolation, häuslicher Gewalt, Medienabhängigkeit, Angststörungen, Gewichtszunahme.

Nun stehen die Zeichen also auf Normalität. Die vielen Narben werden so nicht verheilen. Und auf eine schnelle Rückkehr zu vorpandemischen Zeiten zu setzen, scheint verfrüht zu sein. In Großbritannien warnen die ersten Expertinnen vor einer dritten Welle aufgrund von Virusvarianten, in Vietnam wurde erst kürzlich eine neue entdeckt. Wie wäre Deutschland auf eine weitere Welle vorbereitet? Nicht besonders gut, lautet das Urteil aus Sicht der Bildungs- und Ungleichheitsforschung.

Die Virologie alleine kann es nicht richten. Forscher müssen sich vernetzen

Das beginnt schon bei der Grundlage für politische Entscheidungen: Zwar hat die Wissenschaft fraglos eine wichtige Rolle bei der Bekämpfung der Pandemie gespielt. In der Breite aber wurden wissenschaftliche Beratungsgremien ad hoc, erratisch und exklusiv angelegt, waren zu sehr auf das Hier und Jetzt ausgerichtet. Deshalb rutschten gesellschaftlich wichtige Themen wie die Bildung einfach weg. Die Virologie alleine kann es nicht richten. Die Wissenschaft muss sich in ihrer Antwort auf die Pandemie diverser aufstellen: nach Disziplin, Alter und Geschlecht. Sie muss gleichzeitig flexibler und international stärker vernetzt sein. Andere Länder zeigen, wie das gehen könnte, etwa Großbritannien mit seiner Scientific Advisory Group for Emergencies (SAGE).

Trotz Dauerpräsenz von Robert Koch-Institut und Bundesgesundheitsminister bei Presseterminen: Deutschland muss seinen Bürgerinnen und Bürgern Entscheidungen besser begründen. Dies gilt vor allem dann, wenn Kriterien nicht für alle Personengruppen gleichermaßen gelten und zudem noch uneinheitliche Folgen haben. Nirgends wird das so deutlich wie bei den Schulen. Während etwa Frankreich und die Schweiz sie weitgehend offen hielten, blieben ihre Türen hierzulande lange geschlossen. Zunächst wurde dieses Vorgehen mit den Risiken für ältere Personen begründet, dann mit dem Schutz der Lehrkräfte. Bis zuletzt wollte Berlin den regelmäßigen Schulbesuch inzidenzunabhängig ausschließen, ein Gericht stellte am Montag die Unverhältnismäßigkeit fest.

Unübersichtlichkeit auch bei den Tests: In manchen Bundesländern können sich die Kinder zuhause testen. Andere Bundesländer geben diesen Vertrauensvorschuss nicht. Dort testen sich die Kinder selbst in der Schule. Keine Lehrerin kann dafür geradestehen, dass dies ordnungsgemäß vollzogen wird. Vor allem aber: Das negative Testergebnis bedeutet lediglich, dass das Kind in der Schule bleiben darf. Es erlaubt ihm jedoch keinen Nachmittagssport, keinen Spielplatz-, Museums- oder Freundesbesuch. Bei Erwachsenen eröffnet ein negativer Test all diese und weitere Möglichkeiten. Dies verletzt Gerechtigkeitsnormen. Wie soll das Vertrauen in die Politik dabei keinen Schaden nehmen?

Der bitterste Befund bleibt jener der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin: Kinder und Jugendliche, das zeigen Studien weltweit, leiden am wenigsten unter einer Covid-19-Infektion selbst, aber am deutlichsten und wahrscheinlich am nachhaltigsten unter den mit der Pandemie verbundenen Einschränkungen. Wir sehen das an der Bildungsarmut, die während der Pandemie zunimmt. Experten sprechen von 25 Prozent aller Kinder, die Schaden durch fehlende Betreuung und Bildung genommen haben. Die Pandemie verschärft auch bereits bestehende Ungleichheiten. Digitaler Unterricht, Wechselunterricht, zudem nur in wenigen Kernfächern, das Fehlen von Freunden und anderen Bezugspersonen - all das wirkt sich ganz unterschiedlich auf Kinder aus. Während sich das eine Kind alleine vor dem Bildschirm motivieren kann, braucht ein anderes die helfende Hand der Lehrerin. Das eine Kind bekommt Nachhilfe von den Eltern, die Eltern eines anderen können diese nicht leisten. Gerade in der Pandemie gilt: In Deutschland hängt der Bildungserfolg der Kinder maßgeblich von den Möglichkeiten der Eltern ab.

Bildung schafft Teilhabe und verhindert, dass Menschen Bittsteller werden

Was also ist zu tun? Ungleiche Ausgangslagen erfordern Maßnahmen, die gezielt den besonders betroffenen Kindern helfen. Die zwei Milliarden Euro an Soforthilfen durch das Aktionsprogramm des Bundesbildungs- und Familienministeriums sind ein erster wichtiger Schritt, sie werden aber bei Weitem nicht reichen. Vor allem jetzt, da einige Landesrechnungshöfe schon Sparmaßnahmen fordern und selbst Stellen für Lehrerinnen und Lehrer hinterfragen, bleibt der Bund gefordert. Und kann ohne föderales Gerangel sehr viel tun, wie ein Gutachten zeigt, das ich kürzlich mit dem Juristen Michael Wrase vorgelegt habe.Als Basis dient das Bildungs- und Teilhabegesetz. Das ist zwar zehn Jahre alt, hat aber bislang keine richtige Wirkung entfalten können: Viele Eltern wissen nichts von den Fördermöglichkeiten oder scheitern an komplizierten Anträgen; der Großteil der Gelder gelangt deshalb nicht zu den Kindern. Aus der Holschuld der Eltern muss deshalb eine Bringschuld des Staates werden. Schulen mit einem Anteil von mehr als 20 Prozent anspruchsberechtigten Kindern könnten dann beispielsweise automatisch mehr Geld bekommen, um Lernhilfen anzubieten oder pädagogisches Personal aufzustocken.

Bildung ist Bürgerrecht, so der Soziologe Ralf Dahrendorf. Und die Bedeutung der Bildung für unsere Gesellschaft hat das Bundesverfassungsgericht immer wieder betont. Bildung schafft Teilhabe, wirkt vorsorgend und lässt Menschen nicht zu Bittstellern werden. Wann, wenn nicht in diesen Zeiten, sollten wir in dieses Gut investieren?

Jutta Allmendinger ist Soziologin und seit 2007 Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB).

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