Europäische Union:Das Ablenkungsmanöver

Europäische Union: Flüchtlinge an der türkisch-griechischen Grenze, verhaftet im März 2020 von griechischen Soldaten.

Flüchtlinge an der türkisch-griechischen Grenze, verhaftet im März 2020 von griechischen Soldaten.

(Foto: Giannis Papanikos/AP)

Die EU gewöhnt sich daran, Flüchtlinge wie nun an der polnischen Grenze brutal zurückzudrängen. Dann sollten die Europäer sich aber auch nicht mehr für Hüter der Menschenrechte halten.

Kommentar von Thomas Kirchner

In seiner jüngsten Ausgabe hat der britische Economist Brüssel als Ort bezeichnet, in dem "Bullshit das Sagen hat". Das stimmt leider. Denn in der EU-Kapitale neigt man besonders häufig dazu, die Wirklichkeit gezielt zu negieren. Und das ist nun mal "Bullshit", wie es der amerikanische Philosoph Harry Frankfurt vor Jahrzehnten definierte.

Die Wirklichkeit an der polnisch-belarussischen Grenze zum Beispiel sieht so aus: Auf die Provokation Alexander Lukaschenkos, der Tausende Migranten aus dem Nahen Osten holte, um die EU unter Druck zu setzen, hat die polnische Regierung nicht weniger unsäglich reagiert. Sie lässt die Migranten nicht einreisen. Statt sie anzuhören und ihre Schutzbedürftigkeit zu prüfen, schubst sie die Menschen gewaltsam zurück nach Belarus, egal ob sie dabei verhungern oder erfrieren, was mehrmals passiert ist. Es handelt sich um Pushbacks, einen Verstoß gegen europäisches und internationales Recht, Beobachter sind ausgesperrt.

Dass die Warschauer Regierung diese Praxis mit einem Gesetz "legalisiert" hat, macht sie nicht weniger rechtswidrig. Dieses Gesetz wird vom Europäischen Gerichtshof genauso gekippt werden wie das ungarische Asylrecht. Durch beides weht derselbe Geist. In Budapest und Warschau hält man die EU-Asylregeln für Schnickschnack und würde am liebsten keinen einzigen Flüchtling ins Land lassen.

Statt diese Wirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen und die polnische Regierung zu ermahnen, greift die Europäische Kommission zur Bullshit-Taktik. Sie will Polen und den ebenfalls betroffenen Staaten Litauen und Lettland eine Ausnahme von den Asylregeln gewähren. Sie dürfen vorübergehend das beschleunigte "Grenzverfahren" anwenden, das man von Flughäfen kennt. Bis über den Antrag nach spätestens 16 Wochen entschieden ist, gelten die Bewerber als nicht eingereist und werden interniert. Abschiebungen sollen schneller und leichter möglich sein.

Schwächt die EU-Kommission das Grundrecht von Asylsuchenden?

Die Kommission nutzt damit erstmals eine Regelung im EU-Vertrag, die Ausnahmen erlaubt, wenn sich "Mitgliedstaaten aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in einer Notlage" befinden. Besteht eine Notlage? Die Innenkommissarin sagt selbst, es gebe "keine Migrationskrise", die Zahl der ankommenden Migranten sei "nicht hoch". Menschenrechtsorganisationen haben den Vorschlag, den die EU-Regierungen noch billigen müssen, heftig kritisiert, sie sehen darin eine Schwächung der Grundrechte von Asylsuchenden - was die Kommission bestreitet.

Ob sie recht hat, ist allerdings gar nicht entscheidend. Denn die polnische Regierung schert sich ohnehin nicht darum, sie hat kein Interesse an einem EU-rechtskonformen Grenzregime. Sie lehnt auch die Hilfe von Frontex-Beamten ab. Sie will eine Mauer an der Grenze errichten. Die EU-Kommission weiß das, aber sie tut nichts dagegen. An der rechtswidrigen Praxis an der polnischen Grenze wird ihr Vorschlag kein bisschen ändern. Er ist ein Ablenkungsmanöver.

Das passt zum Trend in der europäischen Flüchtlingspolitik. Zwölf EU-Staaten haben "physische Barrieren" an der polnischen Grenze ausdrücklich begrüßt. Immer öfter kommt es zu Pushbacks, etwa in Griechenland, Kroatien, Rumänien. Man gewöhnt sich in der EU offenbar an eine Politik der Zurückdrängung. Dann sollten die Europäer aber auch aufhören, sich als Hüter der Menschenrechte aufzuspielen.

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