Klassik:Der Polarisierer am Pult

Bayreuther Festspiele 2021 - Christian Thielemann

Ein Mann, der die Musik lebt - wagnerianisch, intensiv und feinfühlig bis an die Grenzen des Aushaltbaren: Dirigent Christian Thielemann.

(Foto: Robert Michael/dpa)

Christian Thielemann hat an diesem Dienstag seinen einzigen Auftritt bei den Bayreuther Festspielen - ohne großen Titel, aber mit neuer großer Freiheit.

Von Kia Vahland

Christian Thielemann nimmt Abschied. Nicht von der Kunst, aber von der Idee, als berühmter Dirigent auch gleichzeitig ein geachteter Musikfunktionär sein zu müssen. An diesem Dienstag ist in Bayreuth sein "Parsifal" von Richard Wagner zu hören, in einer konzertanten Fassung ohne Regie und ohne Interaktionen zwischen den Sängern. Es ist der einzige Auftritt Christian Thielemanns in diesem Sommer auf dem Grünen Hügel, und er wird dabei nicht mehr, wie in den Jahren 2015 bis 2020, den Titel "Musikdirektor" tragen. Die gemeinsame Zukunft? Die wird es wohl über das Engagement Thielemanns für 2022 hinaus geben, aber wie sie aussieht, bleibt offen. "Positionen, Titel und Bezeichnungen sind aktuell wirklich zweitrangig", beteuerte der 62-jährige Berliner noch am Montag mit größtmöglicher Nonchalance.

Er will offenbar nicht als gebrochener Held von der Karriereleiter abtreten, und auch nicht, nicht noch einmal, als Wüterich. Zu oft sind seine Arbeitsverhältnisse im Bruch geendet, in gegenseitiger Enttäuschung, weniger über Thielemanns Musikverständnis, sondern vielmehr über seine, wie berichtet wird, bisweilen rigorose Art, Konflikte auf die Spitze zu treiben und alles besser wissen zu wollen.

Er lebt Musik, wagnerianisch, intensiv, bis an die Grenzen des Aushaltbaren

Dieses Mal aber scheint wirklich eine Last von ihm abzufallen. Er freut sich ganz offensichtlich auf die neue Freiheit, keine institutionelle Rücksichten mehr nehmen zu müssen, sich ganz der Musik hingeben zu dürfen. Sie lebt er wagnerianisch, intensiv und feinfühlig bis an die Grenzen des Aushaltbaren: "Ich muss hin und wieder weg von der Musik, weil sie mich sonst zerfressen würde", erzählte er einmal dem SZ-Magazin. Jetzt ist es die eigene Macht, von der er weg muss. Nicht, weil er das selbst so entschieden hätte, das hat er nicht. Aber da es nun einmal so ist, zeigt er sich in der Öffentlichkeit gelassen, geradezu erleichtert.

Es ist nicht nur seine künstlerische Wahlheimat Bayreuth, in der er zwar weiterhin gern gesehen ist, aber plötzlich nicht mehr zum Inventar zählt. Und das, obwohl er erst der zweite Dirigent ist, der alle zehn in Bayreuth aufgeführten Wagner-Opern dort auch im engen Orchestergraben dirigiert hat, auf 179 Aufführungen kommt er. Auch sein Vertrag als Künstlerischer Leiter der Salzburger Osterfestspiele wurde nach einem verlorenen Machtkampf mit dem Geschäftsführer Nikolaus Bachler nicht über 2022 hinaus verlängert.

Noch lange nicht am Ende seiner Kunst

Und schließlich war da der Aufreger des Jahres im Klassikbetrieb: Im Mai teilte das sächsische Kulturministerium mit, der Vertrag Christian Thielemanns als Leiter der Dresdner Staatskapelle laufe mit der Spielzeit 2023/24 aus. Man wünsche sich einen Neuanfang. Bald kam heraus, dass dies nicht nur eine politische Entscheidung war, sondern dass auch das Orchester sich schon früh die Möglichkeit zum Chefwechsel ausbedungen haben soll. Die einen, auch Thielemanns Ex-Antipode Bachler, beklagten eine "Reißbrettentscheidung", mit der ein Weltklassedirigent abserviert werde. Andere, darunter der Chef der Deutschen Orchestervereinigung Gerald Mertens, sinnierten, die "Zeit der Pultgötter" sei eben vorbei.

Der streng gescheitelte Thielemann polarisiert, so war es immer im Leben dieses temperamentvollen Musikers, der sich schon als Kind tagelang ins Klavier- und Bratschenspiel versenken konnte. Niemand aber stellt seine außerordentliche Begabung, seinen Arbeitseifer, sein ästhetisches Gespür, seine intellektuelle Schärfe oder seine Werkkenntnisse und musikalische Lernfähigkeit infrage. Gerade interpretierte er bei den Salzburger Festspielen Anton Bruckners Siebte Symphonie, mit vollem Körpereinsatz und der Fähigkeit, die Dramatik menschlicher Gefühle nicht einzuhegen, sondern offenzulegen. Christian Thielemann ist noch lange nicht am Ende seiner Kunst angelangt, im Gegenteil.

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