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Meinung am Mittag: Astra Zeneca:Alles Mist? Nicht ganz

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Das Hin und Her mit dem Astra-Zeneca-Vakzin fügt sich fatal ein in das Bild vom deutschen Impfchaos und Impfversagen. Doch das sollte nicht den Blick auf eine beruhigende Erkenntnis verstellen.

Kommentar von Hanno Charisius

Erst sollte der Impfstoff von Astra Zeneca nur jüngeren Menschen gegeben werden. Jetzt nur noch älteren - wer soll da eigentlich noch mitkommen? Das Hin und Her sägt am Vertrauen - nicht nur in die Impfstoffe, sondern inzwischen auch ins Große und Ganze. Es fügt sich ins Bild von Impfchaos und -versagen. In Lockdown- und Lockerungsgezerre. Von fehlenden Tests und einer Strategie dazu ganz zu schweigen. Es ist schon längst nicht mehr zu verkraften. Und jetzt auch das noch?

Was man jedoch festhalten muss, und das kann durchaus Vertrauen schaffen: Es gibt in Deutschland ein funktionierendes Frühwarnsystem, das in der Lage war, selbst diese sehr seltenen möglichen Nebenwirkungen eines Impfstoffes zu erkennen. Noch ist unklar, ob es wirklich der Impfstoff war, der zu mehr als 30 Hirnvenenthrombosen in Deutschland geführt hat. Mindestens neun Menschen sind dadurch gestorben. Es könnten weitere Fälle in den kommenden Tagen hinzukommen.

Schaut man in die Daten, so ist das mögliche Risiko durch den Impfstoff jedoch nicht gleichmäßig verteilt. Bisher scheinen vor allem Frauen bis 63 Jahren von den seltenen Blutgerinnseln im Kopf betroffen zu sein. Also jene Altersgruppe, in denen eine Corona-Infektion nur sehr selten tödlich verläuft. Sie müssen einen anderen Impfstoff bekommen, um ihr Risiko zu minimieren.

Menschen über 60 sollten weiter das Vakzin bekommen. Schnell!

In England, wo bereits sehr viel mit dem Vakzin geimpft wurde, ist dieses Muster nicht zu erkennen. Das könnte an einem weniger gut funktionierenden Meldesystem liegen. Oder daran, dass dort sehr viele ältere Menschen diesen Impfstoff bekommen haben. Es könnte sein, dass für sie das Risiko, von dieser Thromboseform betroffen zu sein, generell deutlich geringer ist. In jedem Fall steigt das Risiko, durch Sars-CoV-2 zu sterben mit dem Alter drastisch. Für die Ältesten übersteigt das Sterberisiko durch das Virus jenes von Impfkomplikationen um ein Vielfaches.

So ist es folgerichtig - und nach derzeitigem Stand des Wissens auch sicher -, dass Menschen über 60 Jahren weiterhin mit diesem Impfstoff geschützt werden. Dass er wirkt und Menschen zuverlässig vor schwerer Krankheit und Tod durch das Virus schützt, wurde vielfach gezeigt. Deutschland hat große Mengen von dem Vakzin bestellt, und die Bevölkerungsgruppe im Alter von 60+ ist, von den Hochbetagten einmal abgesehen, bisher praktisch ungeschützt. Sie sollte den Impfstoff bekommen, von ihren Hausärztinnen und Hausärzten, in Impfzentren, wo auch immer - Hauptsache schnell.

Wenn die Ursache geklärt ist, könnte es sogar sein, dass der Impfstoff auch wieder für jüngere Menschen freigegeben wird. Es gibt bereits überzeugende Erklärungsansätze, und sollten die sich bestätigen, eröffnen sich vielleicht auch Möglichkeiten, den gefährlichen Verklumpungen in den Blutbahnen vorzubeugen oder sie sehr schnell und wirkungsvoll zu behandeln. Für die Impfkampagne zeichnet sich dennoch ein Rückschlag ab. Die bisher schon überkomplizierte Vakzin-Vergabe wird nicht einfacher. Tausende Impftermine müssen nun verschoben werden. Allein das wird viele Menschenleben kosten, das Virus macht ja keine Pause. Und es ist sehr wahrscheinlich, dass viele Menschen keine Lust mehr haben, sich diesen Impfstoff spritzen zu lassen. Das mag keine rationale Entscheidung sein, verständlich ist sie gleichwohl.

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