Sozialpolitik:Zögern gilt nicht mehr

Sozialpolitik: 900 Millionen unbezahlte Überstunden werden in Deutschland jedes Jahr gemacht. Künftig sollen sie alle erfasst und vergütet werden.

900 Millionen unbezahlte Überstunden werden in Deutschland jedes Jahr gemacht. Künftig sollen sie alle erfasst und vergütet werden.

(Foto: Frank Rumpenhorst/dpa)

Bei der Arbeitszeiterfassung steuert die Koalition auf eine neue, heftige Auseinandersetzung zu. Faule Kompromisse aber darf es nicht geben.

Kommentar von Roland Preuß

Im Betrieb kann eine Beschäftigte nun zum Chef gehen und darauf pochen, dass ihre Arbeitszeit ab sofort festgehalten wird. So steht es ja im Urteil des Bundesarbeitsgerichts. Und in Berlin kann Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) zu den Koalitionspartnern gehen und verlangen, dass man nun ein neues Gesetz brauche, was diese Arbeitszeiterfassung ausbuchstabiert. Für beide Fälle gilt: Ausgang ungewiss. Der Spruch der Bundesrichter von vergangener Woche hat mehr offengelassen, als viele Schlagzeilen vermuten lassen. Der Arbeitgeber muss eine Arbeitszeiterfassung einrichten, ja. Wie aber soll diese aussehen? Was soll alles erfasst werden? Und was passiert, wenn jemand betrügt?

Jetzt rächt sich, dass sowohl die frühere als auch die jetzige Koalition das Thema vor sich hergeschoben haben. Vor gut drei Jahren hat der Europäische Gerichtshof entschieden: Die Mitgliedstaaten müssen die Arbeitgeber zu einer Arbeitszeiterfassung verpflichten. Passiert ist seitdem herzlich wenig. Nun, nach dem Urteil, sind die Beschäftigten verunsichert, die Unternehmen irritiert, und die Bundesregierung steht als Zauderer dar. Das wäre auch anders gegangen. Statt rechtzeitig politisch zu gestalten, muss nun hastig nachgearbeitet werden. Zögern gilt nicht mehr.

Eins ist schon jetzt klar: Die Richter haben der Ampelkoalition neuen Konfliktstoff aufgetischt. Die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik war schon bisher nicht der Blumengarten koalitionärer Harmonie. Man hat sich offen gestritten über die Höhe des Bürgergeldes, über Sanktionen, auch über den Mieterschutz. Es ist einer der Bereiche, in denen die FDP viel unterscheidet von den Vorstellungen bei SPD und Grünen.

Das Gericht hat der SPD einen unerwarteten Sieg beschert

Den Sozialdemokraten eröffnet das Urteil des Arbeitsgerichts die Gelegenheit, ihre langjährige Forderung durchzusetzen, die Arbeitszeiten möglichst lückenlos zu erfassen. Und das, obwohl es nicht mal im Koalitionsvertrag steht. Dort haben sich die Partner lediglich auf einen Prüfauftrag verständigen können. Es war die Fluchttür heraus aus diesem Kampfplatz mit der FDP. Nun scheint die SPD einen Sieg zu erringen, ohne anderswo politische Zugeständnisse machen zu müssen. An dem Richterspruch kommt niemand vorbei.

Einfach wird das trotzdem nicht. Die FDP möchte sich bewähren in dieser Koalition als Gralshüter ökonomischer Vernunft - oder dessen, was sie dafür hält. Diese Rolle verteidigen die Liberalen schon hartnäckig bei der Schuldenbremse und bei ihrem notorischen Nein zu Steuererhöhungen. Auch beim Thema Arbeitszeiterfassung können sich SPD und Grüne auf zähen Widerstand gefasst machen. Der Druck ist groß. Wissenschaftler haben ermittelt, dass etwa 900 Millionen unbezahlte Überstunden in Deutschland gemacht werden - und zwar pro Jahr. Es geht also um einen zweistelligen Milliardenbetrag, den Unternehmen zusätzlich zu zahlen hätten.

Diese Lage birgt die Gefahr, dass man sich erneut ins Ungewisse flüchtet, so wie schon im Koalitionsvertrag. Beim Mindestlohn kann man besichtigen, wohin das führt. Da gibt es schon eine Pflicht zur Erfassung der Arbeitszeit, aber sie ist unpraktikabel. Man darf alles handschriftlich im Nachhinein notieren, jeder Betrieb hat eine Woche Zeit, die Arbeitszeiten vorzulegen. Jede Kontrolle wird so schnell zur Farce. Das darf sich im großen Rahmen nicht wiederholen.

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