Süddeutsche Zeitung

Arabischer Frühling:Aktion und Reaktion

Vor zehn Jahren liefen die Menschen in Arabien gegen ihre unterdrückerischen Regime Sturm. Heute werden viele der Staaten wieder von autoritären, korrupten Regierungen beherrscht. Doch der nächste Aufstand wird kommen. Und Europa hat allen Grund, sich mehr um die Menschen in den arabischen Staaten zu kümmern.

Von Paul-Anton Krüger

Ausgelöst von der Selbstverbrennung des tunesischen Gemüsehändlers Mohammed Bouazizi fegten vor zehn Jahren Massenproteste durch die arabische Welt. Es war ein Frühling, der im Winter begann. Hoffnungsvoll machten sich die Menschen daran, sich der Despoten zu entledigen, die sie jahrzehntelang gegängelt hatten. Getrieben waren sie vom Frust über die katastrophale soziale Lage, dem Wunsch nach demokratischer Partizipation, der Abscheu gegenüber staatlicher Willkür und Repression. All das verdichtete sich im Slogan, der die Menschen einte von Tunis über Kairo bis nach Tripolis oder Sanaa: "Das Volk will den Sturz des Systems!"

Im Rückblick zeigt sich: Es mussten zwar etliche der teils greisen Diktatoren abtreten. Das System grundlegend zu ändern vermochten aber nur die Tunesier. Diese Diagnose festigt sich im Blick auf die zweite Welle der Rebellionen vergangenes Jahr in Algerien, Sudan, Irak und Libanon. So unterschiedlich die Voraussetzungen sind - die politischen Machtgefüge, die Dynamik der Proteste -, lässt sich doch in fast allen Staaten ein Faktor ausmachen, der entscheidend ist dafür, ob es zu einem Wandel hin zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und mehr sozialer Gerechtigkeit kommt: die Rolle und die gesellschaftliche Stellung des Militärs und des Sicherheitsapparates.

In Tunesien stellte sich die Armee auf die Seite des Volkes. In Ägypten ließen die Streitkräfte zumindest zu, dass Hosni Mubarak gestürzt wurde. Dabei ging es aber nie darum, der Demokratie den Weg zu bahnen oder eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen. Dem Militär kam es gelegen, Mubarak loszuwerden, um seine Macht und seine wirtschaftlichen Interessen zu sichern. Die sah es bedroht durch Mubaraks Versuch, eine Familiendynastie zu etablieren. Zuvor waren Mubaraks Sohn Gamal und seine korrupte Clique die Profiteure einer Privatisierungspolitik, die zulasten der Armee ging.

Bei erster Gelegenheit wurde gegen die Muslimbrüder geputscht

Folgerichtig nutzten die Generäle unter dem heutigen Präsidenten Abdelfattah al-Sisi die erste Gelegenheit, um gegen die Muslimbrüder zu putschen - ebenfalls weder Demokraten noch Vorreiter guter Regierungsführung. Die Diktatur heute aber ist weit rigider, als Mubaraks Regime es je war. Die Versprechen wirtschaftlichen Aufschwungs haben sich allenfalls für eine kleine Oberschicht erfüllt. Das Militär kontrolliert immer größere Teile der Wirtschaft und beherrscht die Politik. Ähnliches gilt für Algerien: Die Armeeführung ließ den Langzeit-Herrscher Abdelaziz Bouteflika zwar fallen. Es hat mit einem gelenkten Prozess hin zu kosmetischen Veränderungen der Verfassung aber tief greifende Reformen verhindert.

In Syrien rekrutiert sich die Führung des Militärs und der Geheimdienste aus der alawitischen Minderheit. Sie ist auf Wohl und Wehe mit der 50-jährigen Schreckensherrschaft der Assad-Familie verbunden. "Assad für immer, oder wir brennen das Land nieder!", ist ihr Credo, der Krieg gegen die große Mehrheit des eigenen Volkes die Folge. Dort, wo widerstreitende Loyalitäten und Interessen zu einer Fragmentierung der Staatsmacht führten, schlossen sich früher oder später ebenfalls zumeist Bürgerkriege an - in Jemen oder Libyen etwa, wo es letztlich um die Verteilung von Ressourcen geht. Im Irak und in Libanon könnten solche Szenarien bevorstehen - nur dass dort nicht das Militär der stärkste Gewalt-Akteur ist, sondern konfessionell organisierte Milizen, denen es um Partikularinteressen ihrer Unterstützer geht.

Das Trugbild der stabilen Autokratie

Europa muss sich verabschieden vom Trugbild der angeblich stabilen Autokratien in Kairo oder Algier. Stabil sind nur Korruption und Unterdrückung, die Verarmung breiter Gesellschaftsschichten und die Perspektivlosigkeit der schnell wachsenden jungen Bevölkerung. Wer künftige Migrationsbewegungen abwenden will, sollte sich vor allem um die Bedürfnisse der Jungen kümmern. Grenzschutz und Abschottung werden nicht helfen. Europa darf nicht länger den Staat im Staat stärken, wie Deutschland es tut mit bedingungslosen Budgethilfen für Ägyptens Militärregime.

In Tunesien und Sudan haben zivilgesellschaftliche Gruppen, vor allem die Gewerkschaften, dazu beigetragen, dass die Proteste friedlich blieben, gesellschaftliche Reformen angestoßen und Militärregime verhindert wurden. Solche Akteure müssen Europas Partner sein. Entwicklungshilfe muss gekoppelt werden an Fortschritte bei Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit, bei guter Regierungsführung und demokratischer Partizipation.

Das ist Europa Millionen Menschen schuldig, die in dem Gemüsehändler Bouazizi ihr eigenes Leben erblickten - aber auch sich selbst. Es geht um die Glaubwürdigkeit seiner Werte und auch um Interessen: Verwerfungen in der arabischen Welt haben direkte Folgen für Europa. Und solange der Ruf nach Brot, Freiheit und Gerechtigkeit nicht eingelöst wird, ist die Frage nicht, ob es zu neuen Aufständen kommt - sondern nur wann.

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