Süddeutsche Zeitung

Fall Nawalny:Die EU agiert hilflos

Sanktionen gegen Russland dienen vor allem der Selbstbestätigung. Beim Adressaten bewirken sie wenig.

Kommentar von Sonja Zekri

Was macht eigentlich Alexej Nawalny? Alexej Nawalny macht großes Kino. Ruft vier Monate nach seiner Nowitschok-Vergiftung im russischen Tomsk beim russischen Geheimdienst an und plaudert mit den Agenten darüber, wo das Gift aufgetragen wurde (in der Unterhose) und warum ihre Mission gescheitert ist (sie wollten ihn eigentlich umbringen). Was auch immer man über den für Putin gefährlichsten politischen Gegner sagen will - Nerven hat er.

Was hat er sonst? Politisches Talent, ein beneidenswertes Recherchenetzwerk und die große, wenn auch rätselhafte Liebe der Deutschen. Wenn man beobachtet, mit welcher Inbrunst sich die Bundesrepublik seiner angenommen hat, käme man auf den Gedanken, dass in Tomsk um ein Haar der Retter in Russlands ewigem Kampf um die Demokratie umgekommen wäre. Nur ist das nicht bewiesen, und es gibt ernst zu nehmende Kenner des Landes, die das bezweifeln. Hat er dem Nationalismus tatsächlich oder nur taktisch abgeschworen? Wäre er bereit, ein hohes Amt nicht nur zu übernehmen, sondern, viel wichtiger, auch wieder abzugeben?

Die Liste vermeintlicher demokratischer Retter Russlands, welche die deutschen Erwartungen nicht erfüllt haben, ist länger als die Flüsse Sibiriens. Trotzdem ist ein Mordversuch ein Mordversuch, mithin ein Verbrechen. Folter und Mord an Oppositionellen sind das immer, in Russland und all den anderen Ländern, wo Regierungskritiker leiden und sterben. Nur lösen sie fast nie solche politischen Verwerfungen aus.

Viele deutsche Politiker und ein Teil der Öffentlichkeit scheinen den Angriff und die uninspirierten Ausflüchte des Kreml persönlich zu nehmen. Dabei zielte der abschreckende Effekt auf das russische Publikum und die heimischen Kritiker, Deutschland war gar nicht gemeint.

Inzwischen ist es das. Als Reaktion auf die EU-Sanktionen hat der Kreml am Dienstag Einreisesperren gegen deutsche Regierungsmitarbeiter verhängt. Deutschland, so formulierte es der russische Außenminister Sergej Wiktorowitsch Lawrow, sei für die Verhängung der Sanktionen "Lokomotive" gewesen. Da hat er ausnahmsweise recht. Was genau diese Sanktionen gegen Russland bewirken sollen, außer Nawalnys Fall auf die höchste politische Ebene zu bringen, bleibt meist wolkig. Oder glaubt jemand ernsthaft, es bringe die korrupte Autokratie aus dem Tritt, wenn Kreml-Getreuen Konten und Reisemöglichkeiten gesperrt oder der Zugriff auf Jachten verwehrt wird? Sanktionen sind schlimmstenfalls eine Belastung für die russische Opposition, weil die Staatsmedien sie dafür verantwortlich machen. Die Russen erfahren die Details schon heute nur aus dem Internet.

Wahrscheinlich bewirken die Sanktionen also wenig, genauer gesagt, wenig beim Adressaten. All jene aber, die mit pädagogischem Furor fordern, man müsse Russland endlich "Grenzen aufzeigen" oder es, noch offener, "bestrafen", können zufrieden sein. Es ist immer ein gutes Gefühl, sich der eigenen Werte zu vergewissern, auch oder gerade dann, wenn die Werte in einer Gemeinschaft nicht mehr so selbstverständlich sind, wie man mal dachte.

Deutschlands Russlandbild schwankt seit jeher zwischen Furcht und Ehrfurcht und einer trotz der gewaltigen Größe vermuteten Formbarkeit. Der Retter Russlands aber kann nur Russland selbst sein.

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