Einschätzung von Krisen:Die Regierung verweigert sich zu oft der Realität

Einschätzung von Krisen: Letzter Aufruf: Soldaten der Bundeswehr auf dem Weg zu ihrer Maschine, die sie im Juni 2021 aus Masar-i-Scharif aufliegen soll.

Letzter Aufruf: Soldaten der Bundeswehr auf dem Weg zu ihrer Maschine, die sie im Juni 2021 aus Masar-i-Scharif aufliegen soll.

(Foto: Torsten Kraatz/Picture Alliance/dpa/Bundeswehr)

Der Afghanistan-Ausschuss soll die Umstände des chaotischen Abzugs vom Hindukusch aufklären. Dabei steht dieser nur symptomatisch für ein viel größeres Problem der deutschen Politik.

Kommentar von Paul-Anton Krüger

Der Afghanistan-Untersuchungsausschuss des Bundestags kann der deutschen Politik einen großen Dienst erweisen - allerdings nur, wenn seine Mitglieder der Versuchung widerstehen, vor allem Schuldzuweisungen beim politischen Gegner abzuladen. Die politisch Verantwortlichen für den Abzug und die militärische Evakuierungsoperation sind heute im Ruhestand oder stehen nicht mehr in der ersten Reihe. Deswegen solle der Ausschuss kein politisches Kampfinstrument werden, hieß es bei dessen Einsetzung unisono.

Allerdings lässt etwa der Vorsitzende Ralf Stegner (SPD) erkennen, dass er vor allem den Bundesnachrichtendienst, geführt vom CDU-nahen Bruno Kahl, und das Innenministerium, damals geleitet von CSU-Mann Horst Seehofer, in der Verantwortung für das Desaster sieht - bevor die Arbeit überhaupt losgegangen ist. Tatsächlich hat das Innenressort sicher nicht dazu beigetragen, dass die Ortskräfte deutscher Regierungsstellen, rasch und unbürokratisch in Sicherheit gebracht werden konnten. Und der deutsche Auslandsgeheimdienst lag bei der Bewertung der unterschiedlichen Szenarien zwar mit der CIA auf einer Linie, aber eben trotzdem daneben.

War die Einschätzung der Lage vielleicht getrieben von politischen Präferenzen?

Die Abgeordneten aber müssen die drängende Frage stellen: Warum war es, warum ist es so schlecht bestellt um die Prognosefähigkeit der deutschen Politik? Im Auswärtigen Amt war klar, dass man die Botschaft Kabul anders würde sichern müssen, wenn die USA die Grüne Zone nicht mehr bewachen. Im Verteidigungsministerium sorgten sich Beamte und Soldaten um die Sogwirkung, die Bilder des Abzugs verursachen könnten. Charterflüge für Ortskräfte wurden ressortübergreifend verworfen, weil man nicht den Eindruck von Flucht oder Zusammenbruch befördern wollte. Das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit gedachte die Entwicklungszusammenarbeit fortzusetzen.

Fügte sich das Bild nicht zusammen, weil die Ressorts Informationen nicht teilten? Oder sie unterschiedlich bewerteten? Weil die Leute, die im Land waren, nicht ausreichend gehört wurden? Oder war die Einschätzung der Lage vielleicht vor allem getrieben von politischen Präferenzen? Diese Fragen drängen sich nicht nur mit Blick auf das Desaster in Afghanistan auf. Für den letzten großen Auslandseinsatz in Mali müssten Lehren daraus gezogen werden, ist das einhellige Mantra in Berlin.

Im Falle Russlands lagen die Deutschen noch viel eklatanter daneben

Das Versagen bei der Vorhersage von Entwicklungen ist aber viel eklatanter und schwerwiegender im Umgang mit Russland. Wochen vor dem Einmarsch in der Ukraine noch, als die US-Geheimdienste die Invasion schon als mit Abstand wahrscheinlichstes Szenario behandelten, befleißigten sich Vertreter aller maßgeblichen Regierungsinstitutionen in Berlin, Gründe zu erkennen, warum ein Angriff auf die Ukraine nicht im Interesse des russischen Präsidenten Wladimir Putin sein könne. Wieder einmal wollte man nicht wahrhaben, was nicht zur politischen Linie passte.

Eine ähnliche Realitätsverweigerung war schon zu beobachten, als Putin sich in Syrien zum Retter von Diktator Baschar al-Assad aufschwang, Aleppo und Homs in Trümmer bombte. Auch im Umgang mit China - wesentlich bedeutender für die Zukunft Deutschlands - dominierten lange Wirtschaftsinteressen und Wunschdenken die Wahrnehmung. Diesem Problem auf den Grund zu gehen und die strukturellen Ursachen dafür zu identifizieren, das muss am Beispiel Afghanistans das Ziel der Abgeordneten sein.

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