Süddeutsche Zeitung

Afghanistan:Im Stich gelassen

Die Taliban drehen die Uhr zurück, ihre Herrschaft ist grausam und rückständig. Besonders hart trifft es die Frauen, wie ein neuer Bericht von Amnesty International beweist.

Ein Kommentar von Tobias Matern

Annalena Baerbock setzt eine Tradition fort. Wie schon viele Ministerinnen und Minister vor ihr betont die grüne Außenministerin zum Jahrestag des Afghanistan-Desasters, die Bundesregierung werde die Menschen im Land "nicht im Stich lassen". Vor allem diejenigen nicht, die sich für Menschenrechte und demokratische Werte einsetzen.

Der Satz entpuppte sich unter Baerbocks Vorgängerinnen und Vorgängern vergangenen Sommer nicht einmal mehr als Floskel, sondern als Lüge. Selbst die Ortskräfte, die für Deutschland als Übersetzer gearbeitet hatten, wurden zu Tausenden im Stich gelassen, als die Bundeswehr und die anderen westlichen Truppen abzogen, währen die Taliban das Land überrannten.

Zwar will sich Baerbock stärker für die Ortskräfte einsetzen, die noch nicht ausgeflogen worden sind. Und von der Bundesregierung gibt es viele Zusagen, weitere Afghanen und ihre Familien zu retten, aber noch immer kein Konzept, wer denn nun über den weiterhin zu eng definierten Kreis der ehemaligen Mitarbeiter der Deutschen hinaus als schutzbedürftig gilt. Da ist viel Luft nach oben, wenn Berlin denn wirklich vergangene Fehler korrigieren will.

Wie katastrophal die Lage in Afghanistan ist, vor allem für Frauen, Kinder und die Aktivistinnen, die in Kabul gegen die Taliban auf die Straße gehen - das zeigen auch aktuelle Berichte der Vereinten Nationen und von Amnesty International. Folter, Morde aus Vergeltung und Vertreibungen von Minderheiten haben unter den Taliban drastisch zugenommen. Mädchen ab zwölf Jahren dürfen per Dekret der alten, neuen Machthaber in Kabul nicht mehr in die Schule gehen. Frauen sollen nur noch vollverschleiert auf die Straße gehen und in Begleitung eines Mannes reisen. Das wird zwar nicht überall überwacht, aber die Islamisten drehen die Uhren zurück. Ob von den 20 Jahren westlichen Einsatzes überhaupt noch etwas bleiben wird? Es sieht immer weniger danach aus.

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