Der Moment, in dem die Serie Fahrt aufnimmt und einen Sog entwickelt, dem man von nun an nicht mehr auskommt, trifft die vier auf dem Kaufhausdach an, Hedi, Fritzi, Harry und Georg. Unten liegt Berlin, hinter ihnen funkelt der "Kadewe"-Schriftzug seine goldene Verheißung in den Nachthimmel. Die Party zuvor hat Spuren hinterlassen in den Gesichtern, auf den Körpern, und nicht nur, weil jeder nun ein tätowiertes Herz auf der Kuppe des kleinen Fingers trägt. Was zusammengefügt ein Kleeblatt ergibt.
Smokingwesten stehen offen, Glitzerstaub glimmt auf den erhitzten Wangen. Die aufgemalten Schnurrbärte der Frauen sind längst verlaufen, beim korrekten Georg hängt wahrhaftig die Krawatte schief. Harry hat im Nachtclub ein paar überdimensionale Krähenflügel mitgehen lassen, mit denen er nun aussieht wie ein dunkler Engel. Und weil die Nacht süß ist und das Leben voller Verheißungen, leisten sie den heiligen Schwur, das Glück, wenn es sich zeigen sollte, nicht vorüberziehen zu lassen - koste es, was es wolle.
Es ist eine Szene, so randvoll mit Jugend, Sehnsucht und Rebellion, wie man sie so poetisch im deutschen Fernsehen vermutlich nie gesehen hat. Dass dies die Zwanzigerjahre sind und das Unheil schon in der Kulisse wartet, bereit, sich wie ein dunkler Engel auf die vier herabzusenken, bricht einem umstandslos das Herz.
Das öffentlich-rechtliche Historienfernsehen hat sich eine weitere Institution vorgenommen
Bis dahin gilt es, ein paar Klippen zu umschiffen, von denen manche (zugegeben) nur in der eigenen zynischen Fantasie vorhanden sind. So, so, nach dem "Adlon" und der "Charité" hat sich das öffentlich-rechtliche Historienfernsehen einer weiteren Berliner Institution angenommen: diesmal also das Kadewe, von der ARD dämlicherweise als "berühmtestes Kaufhaus der Welt" beworben, das Ganze angesiedelt wieder mal - "Babylon Berlin" gab es ja auch noch - in den zu Tode abgefeierten Twenties. Man sieht es direkt schon vor sich: Zylinder, Pailletten und wallende Pelzmäntel, beflissene Frolleins, werdende Nazis und großherzige Huren in den rotlichternen Etablissements der Stadt. Was kommt als Nächstes - "Hackesche Höfe", "Berlin, Rosenthaler Platz"? "Kranzler"?
Die erste Folge von Eldorado KaDeWe - Jetzt ist unsere Zeit scheint die Befürchtungen insofern noch zu toppen, als das historische Personal um sogenannte Randgruppen erweitert worden ist, die ein engagiertes Drehbuch heute offenbar abbilden muss. Neben dem realen Kadewe-Patriarchen Adolf Jandorf, dessen Sohn Harry (Joel Basman) und dem jungen Buchhalter Georg Karg (Damian Thüne) sind hier außerdem vorhanden: Harrys lesbische Schwester Fritzi (sieht aus und spielt wie Charlotte Gainsbourg, heißt aber Lia von Blarer), die sich in die mittellose Hedi (Valerie Stoll) aus der Damenoberbekleidung verliebt, welche eine kleine Schwester mit Down-Syndrom ernähren muss und mit einem werdenden Nazi verlobt ist. Die großherzige Hure ist schwarz, die Bühne im rotlichternen Nachtclub Eldorado von lustig-lüsternen Lesben und Transfrauen bevölkert, puh, denkt man erst mal, was denn noch?
Auch die Dialoge machen es einem nicht eben leicht, man kann sie, ganz nach Geschmack, lyrisch-kunstvoll oder traktatartig aufgeblasen finden, jedenfalls reden lebende und atmende Menschen eher selten so:
LESBISCHE SCHNEIDERIN: "Die moderne Frau stellt nicht mehr ihr Sein in der Vordergrund, sondern ihre Leistung."
HARRY: "Welche Leistung?"
FRITZI: "Durch Uniformität und ähnlichen Kleidungsstil fühlen sich die Trägerinnen einander verbunden. Konkurrenz und Sexualneid treten in den Hintergrund."
Das alles ist am Ende aber hochgradig egal, weil Eldorado KaDeWe in jedem nur denkbaren Sinn Erwartungen unterläuft, und das fängt mit dem Kleeblatt schon mal an; in seinem Zentrum die Liebesgeschichte. Die reiche Kaufmannstochter Fritzi mit dem kühnen Garçonne-Look und den umstürzlerischen Ansichten und die großäugige Hedi aus dem Hinterhof, die schließlich zum Werbegesicht des Kadewe avanciert: Wie diese beiden sich finden und einander verfallen mit Fingern, Haut, Haaren und Hurra, das muss man in dieser Selbstverständlichkeit auch im Jahr 2021 erst mal erzählen. Dann ist da Fritzis Bruder Harry, der aus den Schützengräben des Ersten Weltkriegs seinen inneren Dämon zurück nach Berlin geschleppt hat: Als toter Soldat mit blutenden Stümpfen sitzt er manchmal neben ihm und flüstert ihm mit grienender Fresse Obszönitäten ins Ohr. Viertes Mitglied im Schicksalsbund: der Buchhalter Georg, Sohn eines Trinkers mit Fressanfällen, der durch diese bewegten Zeiten kommen will, indem er einfach nur seine Pflicht tut ...
Jeder, der einmal wirklich jung war, kann Julia von Heinz verstehen
Freundschaft, Grenzüberschreitung, jugendlicher Sturm und Drang. Wenige können das so präzise und mit übervollem Herzen in Bilder übersetzen wie die Regisseurin Julia von Heinz ("Hannas Reise", "Und morgen die ganze Welt"), die auch am Drehbuch mitgeschrieben hat. Schon die Besetzung des Kleeblatts mit vier großartigen Nachwuchsdarstellern ist ein Glücksfall, die wachsende Zuneigung zu ihnen der Treibstoff der Geschichte. "Kennst du das? Wenn man glaubt, man muss vor lauter Eintönigkeit sterben?", sagt Hedi zu Fritzi. "Man wacht schon auf mit der Hoffnung, dass endlich, endlich irgendwas passiert." Jeder, der einmal wirklich jung war, kann diese Sätze unterschreiben.
Von Heinz ist aber nicht zuletzt auch: eine Frau, die eine feministische Gelegenheit zu nutzen weiß. Es gibt in Eldorado KaDeWe ein bisschen männliche, im Überfluss aber weibliche Nacktheit, gut ausgeleuchtete Akt-Brüste, für drei Päckchen Zigaretten freigelegte Anguck-Brüste, hüpfende Varieté-Brüste mit Nippel-Troddel, außerdem Schamhaare, Achselhaare und sehr viel expliziten, dabei ungeheuer sinnlich und ästhetisch inszenierten Frauensex. Allein die herrliche Vorstellung, wie dem ARD-Stammpublikum demnächst ab 20.15 Uhr der Spätschoppen aus der Hand rutscht, ist Grund genug, sich diese Serie anzuschauen.
Was den Plot angeht: Alles, von dem man schon weiß oder bloß befürchtet, dass es passieren wird, passiert tatsächlich. Die jüdischen Kaufmannskinder machen das Kadewe flott, bevor es erst der Weltwirtschaftskrise und dann den Nazis zum Opfer fällt. Fritzis "abartige Veranlagung" wird auf Anordnung der Mutter mit Elektroschocks behandelt, Hedi muss den Nazi aus blanker Existenznot heiraten, Harry verfällt dem Suff, den Huren und dem Kokain, während Georg brav das tut, was die Zeit und ihre Herren von ihm verlangen.
Erst zögerlich und dann immer ausführlicher schiebt sich die Kulisse des heutigen Berlin hinter die Akteure. Als Zuschauer hält man es im ersten Moment für eine Panne: dass das Personal der Zwanziger mit seinen polierten Frackschößen, Stehkragen und Glitzerkleidchen in einer Stadt unterwegs ist, in der weiße Mercedestaxen und BVG-Busse an Schaufenstern mit Sales-Schildern vorbeifahren. Das ist die größte Überraschung und wunderbarste Regie-Idee von allen: Es ist eben kein Historiendrama geworden, in dem der Gebührenzahler authentisch nachgebastelte Garderoben, Wohnzimmertapeten und das beruhigende Gefühl serviert bekommt, dass der Horror tief in der Vergangenheit versiegelt ist. Eldorado KaDeWe erzählt in diesem Sinne eine universelle Geschichte, die im Jahr 2021 genauso gültig ist wie hundert Jahre zuvor. So ein Glück.
Eldorado KaDeWe , Montag, 27. Dezember, Das Erste, ab 20.15 Uhr, außerdem in der ARD-Mediathek . Am 26. Dezember um 19.40 Uhr zeigt das Erste außerdem die Dokumentation "Mythos KaDeWe - Das Kaufhaus des Westens".