Zum Tod von Jürgen Leinemann:Die Welt als Porträt

Leinemann berichtet über 'Ernstfall Leben'

Jürgen Leinemann schrieb in "Das Leben ist der Ernstfall" auch über seine Krebserkrankung.

(Foto: dpa)

Der Journalist Jürgen Leinemann ist im Alter von 76 Jahren verstorben. Leinemann, der lange für den "Spiegel" arbeitete, wurde zum großen Porträtisten unserer Zeit. Dass Journalismus objektiv sein könne, hielt er für eine "naive oder heuchlerische Mär".

Von Hans Leyendecker

Wenn Journalisten über Franz Josef Strauß schrieben, dann marschierte der gewöhnlich, walzte alle und alles nieder - ein Kraftmensch eben. Was für eine Täuschung. "Man muss ihn nur gehen sehen", schrieb der Reporter Jürgen Leinemann über den Wahlkämpfer Strauß im März 1980: Er "hastet in weicher Eile, verfällt fast ständig in einen unprägnanten Trippeltrab. Sein Gang hat kein Gewicht".

Wer nach Erscheinen der Leinemann-Geschichte den CSU-Vorsitzenden noch als monolithischen Machtmensch beschrieb, der wie ein Panzer durchs politische Unterholz brach, hatte verdammt viel Chuzpe, oder keine Ahnung von dem Beruf, der Leinemann immer so wichtig war.

Er war der genaueste aller genauen Beobachter. Ein unerhört eifriger Sammler von Informationen, ein geduldiger Gesprächspartner, der manchmal vor der Recherche Bücher las, um den Rhythmus für die Geschichte zu finden, die er, wenn er mit all dem Beobachten, Recherchieren, fertig war, irgendwann in präzisen Worten schreiben würde. Er las dann oft Tucholsky, manchmal Kerr, ganz selten Muschg. Der sei ihm zu ähnlich - fand Leinemann. Er war ein Künstler seines Fachs und spürte lange vor anderen gesellschaftlich wichtige Entwicklungen auf: Auf seine ganz eigene Art war er ein großer Investigativer.

"Ein Homme de lettres"

Als politischer Reporter und gelernter Historiker hat sich Leinemann, der von 1971 bis 2007 für den Spiegel in Washington, Bonn, Berlin arbeitete, zeitweise als Büroleiter, überwiegend aber als Autor, mit den Machern in Politik, Wirtschaft und dem Kunstbetrieb beschäftigt. Der Spiegel-Reporter Hermann Schreiber war sein Vorbild. Leinemann hat dann aber seinen ganz eigenen Stil gefunden. Er wurde zum großen Porträtisten unserer Zeit. "Du bist ja ein homme de lettres", hat Rudolf Augstein mal zu ihm gesagt, und Leinemann empfand das, "als hätte er mir einen Orden an die Brust geheftet". Für einen solchen Satz von Augstein hätten viele alles gegeben.

"Nie darf ein Zweifel dran bestehen, dass ich als Reporter verantwortlich bin für die Realität, die ich mit meiner Geschichte schaffe. Keinen Augenblick behaupte ich: So ist es. Ich sage nur, so sehe ich es", schrieb Leinemann über seine Arbeit. Dass Journalismus objektiv sein könnte, hielt er für eine "naive oder heuchlerische Mär". Leinemann betrachtete sich als Medium seiner Geschichten; er suchte Nähe und ging erst beim Schreiben wieder auf Distanz. Und er traute sich was.

Auf der Couch

Die von Leinemann Porträtierten reagierten auf ihn sehr unterschiedlich. Die meisten Konservativen eher positiv. Die Linken oder Grünen, denen er näher stand, manchmal skeptisch. Bei Leinemann lande man doch auf der Couch, sagte Joschka Fischer mal. Aber was Leinemann schrieb, war allen wichtig.

Die Geschichte über ihn sei "sehr lang geworden. Sie war gut geschrieben. Also haben Sie mich ernst genommen", hat ihm der CSU-Politiker Friedrich Zimmermann mal gedankt. Helmut Kohl hingegen strich ihn bei Auslandsreisen von der Liste der mitfliegenden Journalisten. Aber als Leinemann über Sepp Herberger ein Buch geschrieben hatte, trat Kohl als Laudator auf. "Ich hab's gelesen", lobte Kohl.

Die psychologische Reportage ist Leinemanns Werk, ziemlich perfekt hat er in dem Bestseller Höhenrausch den Suchtcharakter von Politikern beschrieben. Er war Alkoholiker, der seine Sucht in den Griff bekam und darüber unter dem Pseudonym "Horst Zocker" ein Buch schrieb.

Der Mann, der schreiben und reden konnte wie kaum ein anderer, erkrankte 2007 an einem für einen Kommunikator besonders heimtückischen Krebs - einem Zungengrund-Karzinom. Er hat dann gekämpft wie immer und auch darüber ein Buch geschrieben: Das Leben ist der Ernstfall: "Ich denke mir Totsein wie Schlafen, allerdings ohne Träume", schrieb er darin. Leinemann, der Frau, Tochter und zwei Enkel hatte und liebte, ist in der Nacht zum Sonntag in Berlin im Alter von 76 Jahren verstorben.

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