Zum 75. Geburtstag:"Wer in einer kaputten Gesellschaft stinknormal ist, mit dem stimmt was nicht"

Günter Wallraff, der große Aufklärer, hat immer beschrieben, was alle wissen konnten, aber niemand so richtig wissen wollte. Heute wird er 75, aber nicht alt. Ein Besuch.

Von Hans Hoff

Zum 75. Geburtstag: Bilder einer großen deutschen Karriere: Günter Wallraff 1986 als Gastarbeiter Ali.

Bilder einer großen deutschen Karriere: Günter Wallraff 1986 als Gastarbeiter Ali.

(Foto: imago)

Am Ende eines längeren Abends betont Günter Wallraff, dass er eine Sehnsucht nach Ruhe und Kontemplation verspüre. "Irgendwann schaff ich das", sagt er, aber wenn man den Mann vorher ein paar Stunden erlebt hat, ist man sich ganz sicher: Das schafft der nie. Also das mit der Ruhe. Wallraff braucht Bewegung, braucht die Unruhe.

In einem Filmporträt mit dem Titel Wallraff war hier, das Lutz Hachmeister für RTL gedreht hat, sagt Wallraff noch einen etwas absurder klingenden Satz. Er beginnt mit "Wenn ich alt bin" und klingt allein deshalb sehr schräg. Wallraff sagt das kurz vor seinem 75. Geburtstag, den er an diesem Sonntag ausdrücklich nicht feiert. Geburtstage sind nicht so sein Ding, weshalb er RTL gebeten hat, den Film über ihn erst eine Woche nach dem Jubiläum zu senden (9.10., 22.15 Uhr). Nur kein Bohei um ihn machen. Das erledigt Wallraff schon selber. Wenn man ihn lässt.

Wallraff wirkt, als könne er jeden Moment aufspringen und einen Marathon laufen

Auf die Frage, wann er denn mit dem Eintreffen des Alters rechne, skizziert er seine vorläufige Lebensplanung. Immer gebe er sich noch zwei, drei Jahre und plane für diese Zeit, und wenn die dann vorbei seien, dann gebe er sich erneut zwei, drei Jahre. "Alt ist man, wenn man sich im Kopf zur Ruhe setzt", sagt er.

Körperlich fit ist er als Ausdauersportler und begeisterter Tischtennisspieler sowieso. Er wirkt bei der Begegnung mit ein paar Journalisten im Hinterhaus seiner Häuser in Köln-Ehrenfeld, als könne er jeden Moment aufspringen und einen Marathon laufen. Nach ein paar Stunden mit Wallraff kann man sich den freundlichen Hachmeister-Film fast sparen. Weil Wallraff so sprudelt und problemlos querfeldein vom Hölzchen aufs Stöckchen hüpft. Immer ein bisschen begeistert von sich selbst, von seinem Elan, von dem, was er noch will, was er noch zu erledigen hat, was er muss.

"Mich gab's ja schon vor RTL"

Er strahlt, wenn er von drei Prozessen gegen ihn berichtet. Ein Schuhverkäufer und zwei Gesundheitsdienstleister klagen. "Die Richtigen", sagt Wallraff und grinst. Er hat mit den Filmen des RTL-Formats Team Wallraff für Aufregung gesorgt, er hat etwas verändert. Bei einem Paketzusteller hat er die Arbeitsbedingungen verbessert, und in Pflegeheimen sind sie inzwischen vorsichtiger, wenn sie Bewohner nachlässig behandeln. Es könnte ja jemand aus Wallraffs Team in der Nähe sein.

"Sie sind der von RTL", sprechen ihn junge Menschen manchmal an. Dann zuckt Wallraff zusammen. "Mich gab's ja schon vorher", erwidert er dann und hadert ein bisschen mit dieser gespaltenen Wahrnehmung. Zu RTL ist er gegangen, weil er es bei den Öffentlich-Rechtlichen zu oft mit unwilligen Juristen zu tun hatte, die manchmal erst mit den potenziellen Prozessgegnern sprachen und ihn dann baten, doch einzulenken. Die Redakteure seien immer okay gewesen, aber die Juristen...

Bei RTL sei das anders, betont er. Da wird das juristisch durchgefochten. Vor allem aber ist er bei dem Sender, weil er sich einbildet, dort junge Menschen erreichen zu können - auch für den Preis, dass er bei einem Kommerzkanal arbeitet, den er selbst kaum einschaltet. Wallraff schaut lieber Phoenix, Arte und 3sat. Und er scheut sich nicht, RTL ob zweifelhafter Restprogramme wie Schwiegertochter gesucht oder Bauer sucht Frau die Leviten zu lesen: "Das kann man auch anders machen." Der Tadel ist im Preis inbegriffen.

"Wer in einer kaputten Gesellschaft stinknormal ist, mit dem stimmt auch was nicht"

Immerhin können die jungen Zuschauer bei RTL nun lernen, was die Lebensleistung von Wallraff ausmacht. Hachmeister ist mit ihm nach Griechenland in jenes Gefängnis gereist, in dem er 1974 zu Zeiten der Militärdiktatur 77 Tage in Haft saß, weil er sich auf einem öffentlichen Platz angekettet und Flugblätter verteilt hatte. Zu sehen ist Wallraff auch in Hannover, wo er vor dem Hochhaus steht, in dem er 1977 in der Rolle des Hans Esser die Machenschaften in der Redaktion von Bild aufzeigte. Immer wieder sind Aufnahmen seiner Industrie- und Gesellschaftsreportagen zu sehen. Wallraff als Türke Ali, Wallraff als Brötchenbäcker, Wallraff als Schwarzer.

Natürlich klingen auch die Vorwürfe gegen Wallraff an. Dass er Mitautoren nicht ordentlich behandelt habe, dass er ein rücksichtsloser Egomane sei, dass er was mit der Stasi gehabt habe. Aber das sind in einem Geburtstagsfilm naturgemäß nur Randaspekte, die im Schatten der Lebensleistung eines großen Aufklärers stehen, der oft nur beschrieben hat, was alle wissen konnten, aber niemand so richtig wissen wollte. Nach Wallraffs Veröffentlichungen musste geredet werden, wurde geredet. Das ist sein großes Verdienst.

Wallraff setzt sich auch jenseits der Kamera für ungerecht Behandelte ein

"Wir haben viel erreicht", sagt er, der inzwischen gelegentlich einen Hauch von Altersmilde spüren lässt. Den aktuellen Papst findet der Kirchenabstinenzler ganz okay, und mit dem einstigen Bild-Chef Kai Diekmann spielt er im Film sogar Tischtennis. Allerdings sei Diekmann kein wirklicher Gegner gewesen, betont Wallraff. "Der tat mir leid", sagt er. So leid, dass er ihm sogar einen Satz zugeschustert hat. Im Gegenzug darf Diekmann im Film sagen, Wallraff sei "ein Stück weit neurotisch".

Der Beurteilte weiß selbst, dass er leicht überdreht wirkt und sehr lästig sein kann, penetrant regelrecht. "Wer in einer kaputten Gesellschaft stinknormal ist, mit dem stimmt auch was nicht", sagt er und deutet das Neurose-Zitat kurzerhand zum Kompliment um. Lieber wird er als manisch beschrieben, als nichts zu tun. Wallraff setzt sich auch jenseits der Kamera für Menschen ein, die ungerecht behandelt werden. Dann sinniert er kurz, ob er "den Gabriel" anrufen soll, damit der als Außenminister eine in Jordanien festgehaltene Frau samt Kind rausholt. Am Ende holt Wallraff die Frau dann aber selbst raus.

Workers Protest At Burger King With Guenter Wallraff

Günter Wallraff 2014 bei einer Gewerkschaftskundgebung zum Burger-King-Skandal.

(Foto: Sascha Schuermann/Getty Images)

Viele seiner Geschichten fangen inzwischen an mit "Können Sie schreiben, ist verjährt". Etwa wie die von einem Prozessgegner, der ihn juristisch in die Enge getrieben hat. Da hat Wallraff einen befreundeten Verleger angerufen, der dem Prozessgegner zum Schein einen Buchvertrag anbot, unter der Auflage, die Anzeige gegen Wallraff zurückzuziehen. Hat geklappt.

Wer soll einmal Wallraffs Nachfolger werden?

An solch einem Abend in Ehrenfeld erfährt man auch Dinge, die man vielleicht nie wissen wollte. Wie Wallraff in einer Sommernacht nackt und beschwipst in der Dachrinne lag und in Streit mit seiner damaligen Gefährtin geriet, was damit endete, dass der Reporter nackt und blutend auf der Straße stand. Man hört von drei Ehen und fünf Töchtern, von Zeiten, da er abgehört wurde, von Prozessen, die ihn bis zum Bundesgerichtshof führten.

Trotzdem taucht dann irgendwann wieder die Frage auf, was denn passieren wird, wenn sich die Endlichkeit seinen Zwei-Drei-Jahres-Plänen in den Weg stellen sollte. Wer macht dann all das, was er jetzt quasi im Alleingang zu erledigen scheint? "Es gibt junge Kollegen hier, die haben Biss", sagt er und verweist auf sein Team. Der Laden läuft, will er signalisieren. Notfalls auch ohne ihn. Aber besser natürlich mit ihm. Und da geht noch einiges. Er wird ja am Sonntag erst 75 und nicht alt.

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