Ein guter Lauf, den The Guardian da momentan hat. In den vergangenen Wochen verging kaum ein Tag, an dem die britische Zeitung keine neuen Geschichten um die NSA-Affäre lieferte. Klassischer Journalismus von seiner besten Seite war das: exklusive Enthüllungen, aufgedeckte Staatsgeheimnisse, ein Informant, der Rede und Antwort steht, dazu Hintergründe und Analysen zum Thema, das Ganze clever multimedial auf allen Kanälen aufbereitet.
Nicht immer allerdings gelingt solch eine professionelle Aufbereitung. Oft sind Ereignisse zu gefährlich, in Kriegsgebieten beispielsweise, manchmal sind die Reporter schlichtweg nicht schnell genug am Ort des Geschehens - im Gegensatz zu Augenzeugen, die ihre Handykameras zücken. Journalisten sind daher immer mal wieder auf diese Amateuraufnahmen angewiesen, um bestimmte Geschichten zu erzählen. Das inhaltliche Vorrecht auf Nachrichten müssen sie sich längst mit dem Smartphone-bewaffneten Volk teilen. Das ehemals mediale Hoheitsgebiet ist plötzlich zugänglich für alle. Zugespitzt formuliert ist manchmal gar eine neue Arbeitsteilung entstanden: Der Journalist berichtet, was der Bürger liefert.
"Reporter können nicht überall sein"
"Reporter können nicht überall sein. Sie sollten die Leute auf der Straße nicht als Konkurrenz sehen, sondern lieber diese Quellen nutzen für neue Erzählformen", sagt Nicolas Filio. Er ist Chefredakteur von Citizenside, einer französischen Nachrichtenagentur, die Augenzeugen die Möglichkeit bietet, ihre Bilder und Videos im Netz hochzuladen. Citizenside prüft die Echtheit des Inhalts und verkauft anschließend das Material mit Nachrichtenwert weiter an Medien in aller Welt. Das können Urlaubsbilder von Präsident Nicolas Sarkozy sein oder eben Szenen aus umkämpften Gebieten in Syrien.
Das Video von Modedesigner John Galliano und seinen antisemitischen Tiraden verkaufte Citizenside 2011 für eine Summe "irgendwo zwischen fünf und sechs Stellen", wie Chefredakteur Filio erzählt. Für den sogenannten Bürgerjournalisten, der das Material bei Citizenside einstellt, entstünden keine Kosten. Im Gegenteil, man handle ein "marktübliches Honorar" mit den Medien aus. 35 bis 50 Prozent davon gehen an die Agentur.
Plötzlich Todesschütze
Nicht selten stellen Menschen ihre Bilder und Videos kostenlos und anonym ins Netz, um auf Missstände hinzuweisen, wie bei den aktuellen Protesten in der Türkei. Jede Minute werden allein auf Youtube einhundert Stunden Videomaterial hochgeladen. Darunter die passenden, auf Echtheit geprüften Bilder zu finden, ist für Journalisten eine neue Herausforderung. Was dazu führen kann, dass sich unschuldige Personen als mutmaßliche Amokschützen in den Nachrichten wiederfinden. So erging es Ryan Lanza, dem Bruder des Amokschützen von Newtown, Adam Lanza, im vergangenen Dezember. Diverse Medien verbreiteten sein Facebook-Profil als "exklusives Foto des Todesschützen", ohne zu prüfen, dass es sich bei dem Täter um seinen jüngeren Bruder Adam handelte.
"Jedes Mal, wenn so etwas passiert, verliert die gesamte Medienbranche an Glaubwürdigkeit", sagt Markham Nolan. "Da ist klassischer Journalismus gefragt: Du musst nicht Erster sein, du musst Recht haben." Nolan ist Redaktionsleiter von Storyful, einer anderen Agentur, die als Zwischenhändler professionelle Medien und Bürgerjournalisten zusammenbringt. "Geschichten erzählen können Journalisten immer noch am besten", sagt er. "Wir helfen ihnen nur dabei, das beste Material zu finden."
Steigendes Interesse an Wackelbildern aus Krisengebieten
30 Storyful-Mitarbeiter mit Sitz in Dublin durchforsten das Internet, insbesondere soziale Netzwerke, nach relevanten Inhalten. Diese werden mithilfe von Dateitypen oder Geodaten verifiziert und, nachdem die Rechte gesichert wurden, an die Klienten (unter anderem New York Times, The Economist, Reuters) weitergereicht zur redaktionellen Einbindung. Kostenpunkt je nach Umfang: zwischen 750 und 15.000 US-Dollar monatlich. Nolan beobachtet eine veränderte Wahrnehmung für die Wackelbilder aus den Krisengebieten: "Wenn irgendein Syrer auf der Straße, entblößt und mit zittrigen Worten, die Situation in einem grobkörnigen Video beschreibt, ist das inzwischen viel wahrhaftiger als ein mustergültiger, mit BBC-Stimme vorgetragener Bericht."
Beim Guardian versucht man, auf den Kurator zu verzichten, indem man die Leser auf der eigenen Seite einbindet. Seit April können Nutzer auf der Community-Plattform GuardianWitness Bilder und Videos unentgeltlich hochladen, die mitunter den Weg ins Blatt finden. "Wir wollen unsere Leser näher an unseren Journalismus bringen und sie einbinden, wenn wir Geschichten erzählen", sagt Laura Oliver, die im Webteam des Guardian die Plattform mitbetreut. Dabei böten sich der Redaktion ganz neue Sichtweisen, zu denen man so direkten Zugang habe. Schnelligkeit ist weiter oberstes Gebot. Beim einordnenden "Warum" der Nachrichten gelten Journalisten als unschlagbar. Beim "Was" überschlagen sich alle Medien gerne mit exklusiven Meldungen, die Netz-Community gibt das Tempo vor, Falschmeldungen entstehen. Die rauszufiltern haben sich Agenturen wie Storyful und Citizenside eben auch zur Aufgabe gemacht. Und zum Geschäft.