Süddeutsche Zeitung

Zeitungsmarkt:Wie Jeff Bezos die "Washington Post" umkrempelt

Weil immer mehr Leute Nachrichten auf dem Smartphone lesen, setzt die "Washington Post" aufs Digitale. Im Wahljahr 2016 soll sie die "New York Times" als wichtigste Zeitung ablösen.

Von Matthias Kolb, Washington

Ihre Vergangenheit wird die Washington Post nicht vergessen. "Die Wahrheit, egal wie schrecklich sie sein mag, ist auf lange Sicht nie so gefährlich wie eine Lüge", steht in schwarzen Lettern an einer Wand der neuen Zentrale der Zeitung. An diesem Satz des legendären Chefredakteurs Ben Bradlee, formuliert während der Enthüllung des Watergate-Skandals 1973, kommen die Redakteure ständig vorbei, wenn sie durch den Newsroom eilen.

Eher versteckt, auf einer blauen Wand vor der Design-Abteilung, ist, in weißen Buchstaben, ein anderer Satz angebracht: "Am gefährlichsten ist es, sich nicht zu verändern." Er stammt vom Multimilliardär Jeff Bezos, der die Post 2013 für 250 Millionen Dollar kaufte und nun in die Zukunft führt. Weil der Amazon-Gründer als Privatmann und Mäzen aktiv wurde, weiß nur er, wie viel seither investiert wurde. An Ressourcen mangelt es dem 51-Jährigen ebenso wenig wie an Ehrgeiz: Die 1877 gegründete Post soll das neue paper of record werden - die wichtigste Zeitung der USA.

An diesem Ziel arbeitet die Redaktion seit Mitte Dezember am One Franklin Square im Herzen der US-Hauptstadt. "Wenn die Leute ihre Nachrichten heute auf dem Smartphone konsumieren, müssen wir uns anpassen", fordert Chefredakteur Marty Baron. Im Klartext heißt das: Online kommt zuerst, Print-Traditionen verschwinden. "Die Titelseite ist mir ziemlich egal", sagt Politik-Ressortleiter Steve Ginsberg. Der 43-Jährige ermuntert sein Team, alle Kanäle wie Twitter, Instagram oder Periscope zu nutzen, um dort Leser zu erreichen. Ginsberg hat viel vor im Wahlkampfjahr 2016: "Wir wollen die Website sein, die der Welt die US-Politik erklärt."

Damit der Nachrichtenstrom im Online-Angebot und auf der Facebook-Seite der Post nie versiegt, ist die Nachrichtenzentrale, intern The Hub genannt, rund um die Uhr besetzt. Barons Wunsch war es auch, dass alle 700 Redakteure in der 7. und 8. Etage Platz finden und mittendrin Grafiker, Programmierer, Videojournalisten und Datenexperten sitzen. Kurze Wege und so viel Kooperation wie möglich - das ist wichtiger als eigene Büros.

Klagen über die engen Arbeitsnischen gebe es nicht, so Medienredakteur Paul Farhi. Als er 1988 zur Post kam, bebte das Gebäude in der 15th Street noch, wenn gegen 21 Uhr die Druckerpresse angestellt wurde. Farhi weiß, welchen Unterschied die Bezos-Millionen in der kriselnden Branche machen: Seit August 2013 wurden 50 Redakteure und Reporter sowie Dutzende Techniker eingestellt. 25 neue Software-Entwickler sind allein für interaktive Webinhalte zuständig. Farhis Bilanz: "Die Stimmung ist sehr gut, auch weil sich unser neuer Verleger inhaltlich nicht einmischt. Alle sehen, wie rasant es aufwärts geht."

Die Post verdient immer noch am meisten mit Printabos, wächst aber vor allem im Digitalen. Im November besuchten in den USA 72 Millionen unique visitors ihre Website - vor zweieinhalb Jahren lag der Wert bei 26 Millionen. Nun sind die Klick-Giganten von Buzzfeed und Huffington Post in Reichweite, doch noch wichtiger ist, dass die New York Times überholt wurde.

"Wir erreichen mehr Leser als je zuvor", freut sich Julia Beizer. Als oberste Produktmanagerin kümmert sich die 34-Jährige mit 17 Mitarbeitern besonders ums Mobil-Geschäft. Stolz ist sie auf die neue Rainbow-App, die pro Bildschirm nur einen Artikel mit großem Foto präsentiert: "Auf Tablets und Smartphones wirken viele Websites unruhig. Unser Design ist magaziniger und der User flippt sich durch die Texte."

Inhaltlich mische sich Bezos nicht ein, heißt es, technisch schon: Er sei "unser bester Beta-Tester"

Beizer erhält regelmäßig E-Mails von Jeff@amazon.com und ist bei den Schaltkonferenzen mit Bezos dabei. Als ein Leser über lange Ladezeiten der App klagte, schlug Bezos vor, erst Bilder in niedriger Auflösung zu laden. "Unser bester Beta-Tester", nennt Technik-Chef Shailesh Prakesh den Verleger. Die Apps sind die eindeutigste Verbindung zum Amazon-Imperium: Sie sind auf jedem Kindle-Tablet vorinstalliert und sechs Monate lang gratis. Genauso lang dauert das kostenlose Post-Digital-Abo für alle Amazon-Prime-Kunden. Wie viele Online-Besucher über diese Kanäle kommen, bleibt geheim. Das Potenzial ist groß: Allein in den USA gibt es mindestens 60 Millionen Prime-Kunden.

Produktmanagerin Beizer legt Wert darauf, alles im Haus zu entwickeln, "da werden keine Amazon-Mitarbeiter eingeflogen." Früher musste alles "so billig wie möglich" sein, weil das Blatt Verluste schrieb. Heute hat ihr Team viele Optionen. Die Post stellt alle Inhalte kostenlos bei Facebook ein, um die Reichweite zu erhöhen und mehr über die Nutzer zu erfahren. Die Daten sollen helfen, Wünsche zu erfüllen und passgenauere Anzeigen schalten zu können. Die Skepsis der Konkurrenz versteht Beizer nicht: "Natürlich könnte Facebook irgendwann die Regeln ändern. Aber unsere Devise ist es, sich hineinzustürzen und möglichst viel zu lernen."

Der Vorwurf, die Post sei nur dank Tricks an der New York Times vorbeigezogen, regt Beizer auf. "Klickschinderei, was soll das sein? Wir wachsen, weil wir preisgekrönten Journalismus auf viele Arten präsentieren. Unsere Datenbank zu Polizeigewalt ist so umfassend, dass das FBI neidisch ist." Sie verweist auf Ideen wie die Sektion "Post Everything". Die meisten dieser Ich-Texte von Gastautoren sind enorm populär im Netz - der Bericht einer arbeitslosen Mutter, die im Mercedes ihre Essensmarken abholte, war 2014 einer der meistgeteilten Texte. Beizer erkennt hier nicht nur einen veränderten Zeitgeist, sondern stellt diese Texte in die Tradition der Zeitung: "1969 führte Bradlee das Ressort Style ein, in dem die Geschichten stehen sollten, über die Leute in der Kaffeepause reden. Diese bieten wir noch heute."

Stets Teil der öffentlichen Debatte zu bleiben, das erwartet auch Steven Ginsberg. Sein Politikteam produziert etwa 70 Artikel täglich, die auf der Website, bei Facebook und in Newslettern verbreitet werden. In The Fix, dem Politblog der Washington Post, spotten die Autoren erst über verunglückte Talkshowauftritte von Politikern und bereiten danach Studien oder Umfragen in anschauliche Grafiken auf. Während früher oft über mögliche Doppelungen diskutiert wurde, heißt es nun: "Zu viel gibt es nicht."

Dank der Bezos-Investitionen kann Ginsberg 2016 doppelt so viele Reporter einsetzen wie im letzten Wahlkampf, 40 an der Zahl: "Wir wollen überall sein, wo die Kandidaten auftreten - und Geschichten publizieren, die niemand sonst findet." Der 30-jährige Robert Costa ist hervorragend mit konservativen Politikern vernetzt und liefert ständig Exklusives. Twitter sei sein zweites Notizbuch: "Ich poste Zitate, während ich meinen Text schreibe und teile fast all meine Infos."

Der Kampf um Obamas Nachfolge ist die zehnte Präsidentenwahl, über die Dan Balz berichtet. Der legendäre Reporter twittert seit Jahren eifrig, doch 2016 konzentriert sich der 69-Jährige auf ein anderes Medium: "Mir gefällt das Visuelle und die Flüchtigkeit von Snapchat." Dass alles immer schneller werde, stört Balz nicht. Im Gegenteil: Ihn begeistert, mit seinen Kollegen bei TV-Debatten "den Lesern in Echtzeit Einordnungen bieten" zu können.

Dan Balz lebt, was sein Chefredakteur Marty Baron seit Jahren wiederholt: "Wir müssen akzeptieren, dass in der Medienbranche der Wandel dauerhaft ist." Die Washington Post scheint dafür gut gerüstet.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2803883
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 04.01.2016/cag
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.