Zum Tode von Antonin Liehm:Der Enzyklopädist unter den Revolutionären

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Er öffnete fast im Alleingang die hinter den Eisernen Vorhang gesperrte Tschechoslowakei für das, was sich im Westen Europas abspielte. Er gründete später die Zeitschrift "Lettre" in Paris. Nun ist Antonín Jaroslav Liehm gestorben.

Von Willi Winkler

Der "Prager Frühling" dauerte von 1960 bis 1968, er dauerte deshalb so lang, weil Antonín Liehm die Zeitschrift Litérarni noviny herausgab. Sie erschien jeden Donnerstag in einer Auflage von 130 000 und war binnen zwei Stunden ausverkauft. Fast ganz allein, aber in Gesellschaft von Milan Kundera und Ivan Klíma, öffnete Liehm damit die hinter den Eisernen Vorhang gesperrte Tschechoslowakei für das, was sich im Westen Europas abspielte. Liehm war kein Dissident, er wollte den Kommunismus reformieren. Im Rückblick verglich er sich mit den Enzyklopädisten, die im 18. Jahrhundert die Französische Revolution intellektuell und literarisch vorbereitet hatten. Statt der Revolution kamen 1968 die russischen Panzer nach Prag.

Liehm ging nach Paris, wo er als Held gefeiert wurde, allerdings keine Geldgeber für eine neue Zeitschrift fand. Er schrieb Bücher über das Kino der Tschechoslowakei, über seinen Landsmann Josef Škvorecký, und schlug sich ansonsten mit Lehraufträgen an amerikanischen Universitäten durch. Als Heinrich Böll und Günter Grass in den Siebzigern eine Ost-West-Zeitschrift planten, dachten sie unweigerlich an Liehm, aber nach einigem Verhandeln merkte er, dass ihm das Ergebnis, das dann L 76 hieß, zu wenig international war. In einem Interview hat er erzählt, dass ihm Grass für seine Bemühungen hundert Dollar überwies und alles Gute wünschte. Das Gute gelang 1984 tatsächlich, es hieß Lettre und wurde Liehms Haupt- und halbes Lebenswerk. Er finanzierte seine Zeitschrift mit Hilfe einiger Gönner, betrieb aber ansonsten klassische Selbstausbeutung und zahlte so gut wie keine Honorare; nur die Übersetzer, darauf legte dieser polyglotte Treibauf größten Wert, mussten nach Tarif bezahlt werden.

Lettre hatte kein politisches Programm, sondern folgte dem Prinzip der Collage; die Texte, nicht die Themen sollten überzeugen. Die Zeit war im zweiten Tauwetter der Achtzigerjahre reif dafür; Lettre wurde das Verständigungsorgan der Wendejahre. Arno Widmann hat die 1988 gegründete deutsche Ausgabe, die sich zu Liehms Freude selbständig weiterentwickelt hat, in der Berliner Zeitung nicht ganz zu Unrecht als "beste Kulturzeitschrift der Welt" bezeichnet, weil alle anderen mit ihr verglichen "von einer geradezu weltflüchtigen Enge" seien. Weltflucht hätte man Liehm am allerwenigsten vorwerfen können. Er pflegte die absolute künstlerische und literarische Promiskuität - alles sollte möglich sein in Lettre, Hauptsache, es war interessant und las sich gut: "Wir waren der Überzeugung, dass es in Schweden Texte gibt, die man in Arabien lesen sollte und umgekehrt; dass es in Bulgarien Texte gibt, die man in Frankreich kennen sollte und umgekehrt." Am vergangenen Freitag ist der europäische Kulturträger Antonín Jaroslav Liehm im Alter von 96 Jahren in seiner Heimatstadt Prag gestorben.

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