ZDF überträgt Fußball-EM aus Usedom:Ach, das ist gar nicht Danzig!

Verwunderung bei den Zuschauern: Katrin Müller-Hohenstein und Oliver Kahn kommentieren die Fußball-EM für das ZDF nicht aus dem Gastgeberland, sondern vom deutschen Ostseestrand aus. Auf einer Seebühne in Usedom, die an den Nachbau einer Bohrinsel erinnert. Nah am Geschehen? Von wegen!

Christopher Keil

Es war der frühe Abend des 3. Juli 2010, die deutsche Nationalmannschaft hatte gerade im Viertelfinale der Fußball-Weltmeisterschaft 4:0 gegen Argentinien gewonnen, und im Stadion von Cape Town sprangen deutsche Zuschauer noch eine halbe Stunde nach Schlusspfiff wie die Affen im doch ziemlich heißen Käfig herum. Besonders drollig trieben es die Fähnchenschwenker vor einer Glasfassade unterm Tribünendach, hinter der Oliver Kahn an der Seite von Moderatorin Katrin Müller-Hohenstein eine kühle Analyse versuchte.

Euro 2012 - ZDF-Studio auf Usedom

Nicht jede Bühne auf dem Wasser stellt den richtigen Bezug zu einer Sportveranstaltung her: Moderatorin Katrin Müller-Hohenstein im "EM-Studio" auf Usedom. Auf dem Bild noch ohne ZDF-Fußball-Experten Oliver Kahn.

(Foto: dpa)

Kahn musste sich damals mehrmals selbst durch ein, wenn auch beherrschtes Lachen unterbrechen. Der ehemalige Welttorhüter hatte immer wieder die Silhouette einer Gruppe besonders wilder Gebärdentänzer im Blick, und wie das Glück des Sieges mächtig durch die deutschen Schlachtenbummler zuckte, sah sehr, sehr lustig aus.

Das ZDF ist damals in Kapstadt mittendrin gewesen: "Nah am Geschehen", wie es doch immer heißt. Jedenfalls hatte der Sender sein Außenstudio für die Vor- und Nachberichterstattung der Übertragungen nicht nach Botswana verlegt, also nicht außerhalb des Gastgeberlandes errichten lassen, sondern in den Arenen.

Das ist diesmal, bei der EM 2012, die in Polen und der Ukraine ausgetragen wird, anders. Mehr als 300 Kilometer entfernt vom Quartier der deutschen Mannschaft in der Danziger Bucht, funkt das Zweite von der Insel Usedom aus die Einlassungen Müller-Hohensteins und die Erklärungen Kahns in den Himmel.

Usedom ist so eine schöne Insel, und alle, die einmal da waren, kommen sicher gerne wieder - meistens sind das aber offenbar Männer und Frauen, die sich ihre Renten schwer verdient haben, wenn man es jetzt richtig deutet.

Weil es bei der Euro vor vier Jahren mit der Seebühne in Bregenz 2008 so gut funktioniert hat während der EM-Spiele für das ZDF, sollte in Usedom wohl alles noch einmal wie damals sein. Liegestuhlreihen wurden vor der Wasserlinie angelegt, eine Plattform wurde ins Meer gerammt, auf einer großen elektronischen Leinwand werden fast alle EM-Spiele gezeigt bis zum 1. Juli.

Usedom ist nicht Bregenz

Doch Usedom ist nicht Bregenz. Das ist keine richtig erschütternde Erkenntnis, aber so sehr die Bilder fliegen, sich drehen und geschwenkt werden, so verheißungsvoll der Horizont abgetastet wird und so rasant in Gesichter gezoomt wird - es sind alles Bilder einer großen Distanz zum emotionalen Ereignis.

Die Uefa wollte mit dem Zwei-Länder-Turnier osteuropäische Gebiete erschließen, die Landkarte des Fußballs neu drucken. Die Menschen in Polen und der Ukraine möchten sich öffnen. Es liegt eine politische Spannung über der Veranstaltung, eine gesellschaftliche sowieso, und es gibt die klassischen Konflikte einer Fußball-Meisterschaft, den Hooliganismus beispielsweise, der ebenfalls beobachtet werden muss. Und das ZDF legt sich an einen deutschen Ostseestrand.

In den bisher oft nur zur Hälfte eingenommenen Liegestühlen ruht und freut sich eine Art AOK-Kongress. Die Stimmung ist herbstlich, ist eher Ende statt Anfang der Saison. Das ganze Ensemble, in dem Müller-Hohenstein und Kahn sich aufhalten, wirkt wie angespültes Strandgut - oder wie der Nachbau einer Bohrinsel. Und da ist es eine Leistung, verloren auf See und ohne die atmosphärische und unmittelbare Anbindung an dynamische Spiele wie das 1:1 der Spanier gegen Italien oder das 2:1 der Ukraine über Schweden, zu urteilen und zu berichten. So zu urteilen, wie Kahn das in der frühen Phase der EM bereits ordentlich hinbekommt und Müller-Hohenstein es tapfer und unverdrossen versucht, hinzubekommen.

Jugendzeltlager? Funktionäre?

Das ZDF wird wohl reagieren. Vielleicht rücken ein paar Jugendzeltlager an. Vielleicht werden ein paar Funktionäre eingeflogen. Vielleicht wird noch mehr in Städte geschaltet, die tatsächlich in Polen und der Ukraine liegen. Vielleicht verbreiten internationale oder nationale Gäste aus der Welt des Fußballs oder Teile der deutschen EM-Expedition bald auf Usedom echte EM-Stimmung. Vielleicht wird Usedom die Bühne für außerordentlich bewegte Politiker.

Wie auch immer: Wenn man sich an die WM in Frankreich erinnert - 1998 postierte sich das ZDF auf einem Hochhausdach eindrucksvoll über den Champs-Élysées - oder an die WM in Deutschland 2006, als das Zweite auf dem Potsdamer Platz im Zentrum Berlins ein Public-Viewing-Stadion für 3000 Zuschauer baute. Und wenn man an Bregenz denkt, ein aus geografischen Gründen ausgewählter Ort, der nicht nur symbolisch die EM-Gastgeberländer Österreich und die Schweiz, sondern auch Deutschland zusammenführte, wenn man also das alles noch einmal abwägt, ist Usedom ein trauriger Knotenpunkt für die Live-Spiele des ZDF von der Euro 2012.

Man kann allerdings hoffen, dass mindestens noch komische Momente geliefert werden vom Ostseestrand. Denn eines sollte man nie unterschätzen: den Humor eines gestrandeten Titanen.

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