Bringt es irgendwas darauf hinzuweisen, dass man nicht in das Haus eines Rechtsmediziners einbrechen und ihn mit seiner Drogenabhängigkeit erpressen muss, damit er den Obduktionsbericht des NSU-Terroristen Uwe Mundlos herausgibt? Hilft es zu erklären, dass dieser Bericht samt zugehörigem Professor (wenn auch ohne Einstichlöcher in den Armen) im NSU-Prozess vorgestellt wurde? Dass der Rechtsmediziner dort auch alle Fragen plausibel beantwortet hat. Auch die nach dem Ruß in der Lunge von Uwe Mundlos, der nach dem letzten Banküberfall noch ein Feuer legte in seinem Wohnmobil. Und sich danach erschoss.
Nützt es, das alles zu erklären? Nein, es nützt nichts. Es macht nur die schöne Story kaputt.
Der Mythos um den rechtsradikalen Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) ist allmählich stärker als die Realität. Krimiautoren und Theatermacher sehen ein lohnendes Sujet, um alle möglichen geheimen Mächte walten zu lassen. Und auch ARD und ZDF spinnen an diesem Mythos kräftig mit. So erscheint es zumindest jemandem, der seit 385 Tagen im NSU-Prozess sitzt, in dem jedes Detail hin und her gewendet wird, jede Frage gestellt und die meisten Antworten gegeben worden sind.
Wer all das vor Gericht gehört hat, reagiert zunehmend allergisch, wenn in Filmen mal wieder als ungeklärt und geheim dargestellt wird, was längst geklärt ist. Oder wenn mal eben ein V-Mann des Verfassungsschutzes von dunklen Mächten in die Luft gesprengt wird, der über die Verstrickung des Staates in die NSU-Morde Auskunft geben könnte - wie in der NSU-Trilogie der ARD aus dem vergangenen Jahr. Nur: So einen V-Mann hat es nie gegeben. Er wurde einfach dazu erfunden.
Oder es wird, wie diesen Montag im ZDF-Thriller Dengler - Die schützende Hand (Buch und Regie: Lars Kraume), gleich die ganze Erkenntnislage über das Ende der NSU-Terrorbande als Lug und Trug dargestellt. Da wird dann behauptet, dass Mundlos und Böhnhardt ihren letzten Banküberfall in Eisenach gar nicht begangen haben konnten, weil sie längst gemeuchelt von staatlichen Dunkelmännern in ihrem Wohnmobil lagen.
Wer im Prozess die Zeugen gehört hat, die aussagten, wie ihnen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt bei diesem Überfall die Waffe auf den Kopf schlugen, oder den Rentner, der beobachtet hat, wie die zwei Terroristen nach dem Überfall ihre Fluchtfahrräder hastig im Wohnmobil verstauten, ist zunehmend irritiert von der Story. Denn dem ZDF-Film zufolge lagen die beiden doch schon lange ermordet im Wohnmobil. Und der Ermittler Dengler (Ronald Zehrfeld) legt mit einer Fülle von Indizien dar, dass nur das die Wahrheit sein kann.
Der Misstrauensantrag gegen den Rechtsstaat wird als Spielfilm zur Primetime transportiert
Natürlich ist ein Fernsehfilm keine journalistische Dokumentation, sondern Fiction. In diesem Fall ein Krimi, der NSU ist nur der Hintergrund, vor dem die Story spielt. "Faction" heißt das Genre, eine erfundene Geschichte, ganz nah an der historischen Realität, kunstvoll mit ihr verwoben. Im besten Fall ist die Geschichte dann die Essenz der Wahrheit, noch überzeugender, noch besser. So funktioniert das zum Beispiel in der Serie Babylon Berlin, in der sich vor dem Hintergrund der Weimarer Republik ein Krimi entwickelt. Aber dort stimmen die historischen Bezüge. Und Hinzuerfundenes kann man leicht erkennen.
Die Frage bei der Fiktionalisierung des NSU-Themas ist aber: Was ist die Wahrheit? Und wer definiert sie? Und was, wenn nicht nur die Geschichte im Vordergrund erfunden ist, sondern auch der angeblich historische Hintergrund?
Noch während vor dem Oberlandesgericht München der NSU-Prozess läuft, noch bevor das Urteil gesprochen ist, wird in immer neuen Spielfilmen eine Realität konstruiert, die sich so nicht halten lässt - die aber durch das Fernsehen quasi als verbindliche Wahrheit suggeriert wird. Mit besten Schauspielern (unter anderem Birgit Minichmayr und Jürgen Prochnow) und größtem Aufwand (bis hin zum korrekten Nummernschild auf dem Wohnmobil) wird das Bild einer Republik gezeichnet, die staatliche Mörder losschickt und arglose Polizisten in die Luft sprengt.
Die ganz große Verschwörung war schon immer eine tolle Sache. Viel spannender als das, was wirklich passiert ist. Und derzeit haben die Verschwörungstheoretiker offenbar auch in den öffentlich-rechtlichen Sendern Konjunktur. Vor zwei Wochen lief der Tatort "Der rote Schatten", in dem die aktuelle Fahndung nach den letzten untergetauchten RAF-Leuten den Hintergrund der Handlung bildete. Eine gute Story, doch die rote Rentnergang reichte nicht aus. Deswegen musste auch gleich noch unterstellt werden, dass der Staat die RAF-Leute Baader, Ensslin und Raspe 1977 in einer geheimen Liquidations-Aktion ermordet hat. Das haben damals RAF-Sympathisanten dem Staat vorgeworfen - auch dem damaligen Justizminister Hans-Jochen Vogel. Ein Mann, der sich eher die Hand abhacken ließe, als einen illegalen Liquidationsbefehl mitzutragen. Aber in dem Tatort drang das staatliche Mordkommando in die Zellen der RAF-Leute ein und richtete sie mit aufgesetzten Genickschüssen hin. Dargestellt als gleichberechtigte Möglichkeit zur historisch belegten Selbstmord-Variante. Die Bild-Zeitung warf dem Tatort RAF-Propaganda vor.
So weit muss man nicht gehen. Es gibt gerade bei Spielfilmen eine künstlerische Freiheit, die nicht eng beschränkt sein darf. Aber die Grenze zwischen Realität und Kunst verschwimmt immer mehr. Können reale Ereignisse einfach so umgedeutet werden, wie man es braucht für die Story, die man erzählen will? Ist alles erlaubt? Und, noch wichtiger: Wird das alles geglaubt? Und reicht da wie im ZDF ein Hinweis, dass der Film nach einem Krimi von Wolfgang Schorlau gedreht wurde - wenn er doch wie eine akkurate Polizeiermittlung aufgebaut ist. Wer sich nicht wirklich tief in die NSU-Geschichte gegraben hat, der kann Fiktion und Fakten in diesem Fall nicht mehr unterscheiden. Der glaubt am Ende an die große Verschwörung.
Diese Liebe zur Verschwörung hat allerdings eine Nebenwirkung, die den Verantwortlichen in den Sendern vermutlich nicht einmal bewusst ist: Sie spielen ein Spiel mit, in dem andere versierter sind. Leute aus der rechten Szene, die Akten fleddern und Teile daraus ins Netz stellen, um ihre Theorie zu belegen: Den NSU hat es nie gegeben, er ist eine Erfindung des Verfassungsschutzes. Die zehn Morde und zwei Sprengstoffanschläge: vom Staat inszeniert. Der ganz große Misstrauensantrag gegen den Rechtsstaat, er wird transportiert als Spielfilm zur Primetime.
Derweil sitzen die Journalisten der öffentlich-rechtlichen Sender unermüdlich im Prozess und bemühen sich, die um sich greifenden Fake News über den NSU zu widerlegen. Demnächst werden sie dann womöglich gefragt, warum das Gericht sich nicht endlich um den staatlichen Mord an Mundlos und Böhnhardt kümmert.
Dengler - Die schützende Hand , ZDF, 20.15 Uhr.