Süddeutsche Zeitung

ZDF Neo:Eine Serie wie ein Befreiungsschlag

Rasantes Tempo, Themen wie Gentrifizierung und Sterbehilfe und Ken Duken als Hauptdarsteller: "Tempel" ist die erste eigene Dramaserie von ZDF Neo. Und vielversprechend.

Von Benedikt Frank

Mark Tempel ist die Freundlichkeit in Person. Als Altenpfleger umsorgt er liebevoll Bettlägerige. Mit sanfter Stimme spricht er denen gut zu, die den Lebensmut verloren haben. Während er auf Hausbesuch ist, dringen Maskierte in seine Wohnung ein, schlagen mit Baseballschlägern die Möbel kaputt und zerstören auch die Geige von Tochter Juni.

Zum Glück ist alles ersetzbar. Nur eben nicht mit dem kleinen Pflegergehalt. Mark Tempel sieht sich gezwungen, seinen alten Boxlehrer wiederzutreffen, der auch Zuhälter und Drogendealer ist.

Mit Tempel bringt ZDF Neo seine erste selbst produzierte Dramaserie ins Fernsehen. Eine großer Schritt für den kleinen Sender. Im Bereich der Fiktion liefen bei ZDF Neo bisher nur Wiederholungen aus dem Hauptprogramm, günstige Sitcoms und eingekaufte internationale Produktionen. Nun will man dort mit der Serie beweisen, dass man selbst am besten weiß, was die Zielgruppe der 25- bis 49-jährigen sehen will: ein schnell, dicht und horizontal erzähltes Drama mit ambivalenten Charakteren, die mit ernsten Problemen ringen.

Die sechs halbstündigen Folgen greifen genug Themen für sechs Staffeln auf. Die Gentrifizierung eines Berliner Kiezes bildet den Hintergrund. Es geht aber etwa auch um Sterbehilfe, darum, wie ein Unfall und eine daraus resultierende Behinderung eine Beziehung verändern, um eine Teenager-Schwangerschaft - und das alles nur neben einer Geschichte in der Szene der organisierten Kriminalität. Das der Themenfülle entsprechend rasante Tempo wirkt wie ein Befreiungsschlag gegen das sonst oft so gemächliche öffentlich-rechtliche Fernsehen.

Der Ton und die hohe erzählerische Dichte von Tempel (Buch: Conni Lubek) lassen amerikanische Serien mit ihren gebrochenen Helden als Vorbild erahnen. Nur müssen sich die Charaktere in den kurzen Folgen unnatürlich schnell entwickeln. Es fehlt die Zeit, um mit Mut zur Langsamkeit die Spannung vor einem Höhepunkt bis zum Äußersten zu dehnen.

Der neue Budgetrahmen ist sehr hoch und doch zu niedrig für das, wozu man glaubt, fähig zu sein

ZDF Neo kämpft mit Tempel aber auch in einer ganz anderen Gewichtsklasse als die gefeierten amerikanischen Qualitätsserien wie Breaking Bad, die mit Millionenbudgets produziert werden - pro Folge, wohlgemerkt. Doch der kleine Kanal betritt im öffentlich-rechtlichen System nun einen größeren Ring: "Die Produktionskosten von Tempel sind in etwa vergleichbar mit denen einer Vorabendserie im Hauptprogramm", berichtet Heike Hempel, die Leiterin der ZDF-Redaktion Fernsehfilm/Serie II. Die Kosten für 45 Minuten einer seichten Vorabendserie gibt das ZDF mit durchschnittlich 407 000 Euro an. Serien wie SOKO Wien oder Dr. Klein sehen nicht teuer aus, sie liefern dennoch zuverlässig Quotenerfolge.

Tempel soll trotz des gleichen finanziellen Rahmens aber hochwertiger wirken. Heike Hempel sagt: "Für das, wie wir in Tempel erzählen, sind wir nach wie vor im Low-Budget-Bereich." Für ZDF Neo ist der neue Budgetrahmen sehr hoch und doch gleichzeitig zu niedrig, für das, wozu man glaubt, fähig zu sein.

Wie eine typische Vorabendserie wirkt Tempel jedenfalls nicht, dafür passiert zu viel und dafür ist auch der Umgangston zu rau. Komplett aus dem Nichts kommt die ZDF-Neo-Serie aber auch nicht. Tempel ist kein Krimi, spielt aber in einem Umfeld, in dem auch die unzähligen ZDF-Sokos ermitteln könnten. Drumherum spinnt man nun ein Drama - die Familie Tempel kämpft um sich selbst und um ihren Kiez. "Gerade wenn man erste Schritte geht, sollte man das in einem vertrauten Umfeld tun", sagt Neo-Chefin Simone Emmelius.

"Ficken und Koksen nur an Sonn- und Feiertagen"

Auch der deutschen öffentlich-rechtlichen Tradition, soziale Themen nicht nur mitschwingen zu lassen, sondern sie eher überdeutlich zu benennen, bleibt man treu. Aber in Tempel unterhält sich nicht mehr wie in der Vorabendserie die Polizistin mit dem Sozialpädagogen über Gentrifzierung, sondern der Zuhälter und Dealer Jakob (Thomas Thieme) schimpft in einem Hinterhof über "arschlose, körnerfressende Yoga-Fotzen", von deren gesundem "Ficken und Koksen nur an Sonn- und Feiertagen" keine Sau mehr leben könne. Im Zentrum stehen die Gangster, nicht die Polizei, und auch nach sechs Folgen löst sich nicht alles wieder in Heile-Welt-Fernsehen auf.

Tempel gelingt es, diese Stimmung glaubwürdig zu vermitteln. Dazu tragen die Schauspieler viel bei, allen voran Ken Duken als Mark Tempel, der mal liebenswert sanft sein kann, um kurz darauf als wütender Boxer auszuteilen. Chiara Schoras als seine Frau Sandra und Michelle Barthel als Tochter Juni spielen nicht nur der Hauptfigur zu, sondern überzeugen auch in eigenen Handlungssträngen.

Über die Länge von sechs Folgen bleibt die Serie so interessant. Sie ist auf eine Fortsetzung angelegt. Ob es die geben wird, hat auch mit dem Erfolg beim Publikum zu tun. Doch am späteren Abend auf ZDF Neo schauen weit weniger Menschen zu als am Vorabend im ZDF. Da hilft es auch nichts, diese Zeitschiene zur "zweiten Primetime" zu erklären. An der Quote möchte man den Erfolg bei ZDF Neo darum auch nicht zuerst messen. Wichtiger sei es, das Image bei der jüngeren Zielgruppe zu schärfen.

Ob es die Serie mit dem Hauptprogramm-Budget auch einmal ins Repertoire des Muttersenders ZDF schaffen wird, wo sie ein größeres Publikum erreichen könnte, ist noch offen. "Der Daseinszweck von Tempel ist, die Dramaserie von ZDF Neo zu sein", sagt Senderchefin Simone Emmelius. Die Option gebe es aber bei entsprechendem Interesse. So wurde auch Jan Böhmermanns Neo Magazin Royale bereits ins Hauptprogramm geholt. Wenn ZDF Neo das mit einer fiktionalen Serie wiederholen könnte, würde nicht nur der kleine Spartensender geadelt werden, das ZDF-Publikum könnte auch sehen, was sich noch mit einem Vorabendbudget anstellen ließe.

So oder so: Ein einmaliges Experiment soll Tempel jedenfalls nicht gewesen sein. "Erste Dramaserie bedeutet zwangsläufig, es soll auch eine zweite, eine dritte und eine x-te geben", sagt Simone Emmelius. Der zweite Schritt, der ZDF Neo zum Seriensender machen soll, steht schon fest: Der Sommer meines Lebens ist abgedreht und soll 2017 starten.

Tempel, dienstags um 21.45 Uhr auf ZDF Neo, abrufbar in der Mediathek.

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Quelle:
SZ vom 30.11.2016/cag
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