WM-Achtelfinale Argentinien gegen die Schweiz, 122 Minuten sind gespielt, es steht 1:0 für die favorisierten Argentinier. Da gibt es in der Nachspielzeit der Verlängerung nochmal einen Freistoß für die Schweiz, 18 Meter Torentfernung, zentrale Position. Xherdan Shaqiri legt sich den Ball hin - und scheitert mit einem Schlenzer am Kopf eines argentinischen Verteidigers. Direkt danach pfeift der Schiedsrichter die Partie ab, Argentinien jubelt, die Schweizer sacken geschlagen zu Boden. Und Oliver Kahn ist stocksauer.
"Da denkst du doch nicht dran, so einen Ball irgendwie zu schlenzen, nein", sagt der WM-Experte des ZDF bei der Nachberichterstattung zum Spiel. "Leg ihn quer, da muss der hin, der das härteste Pfund im Fuß hat! Der schießt den Ball durch die Mauer, was weiß ich, das Netz, den Torwart hinten raus! Das sind so Sachen, die ärgern mich dann." Eine wunderbare Tirade in der sonst meist so gleichförmigen WM-Berichterstattung von ARD und ZDF.
Klar, Kahn könnte der mäßig erfolgreiche Schussversuch egal sein, er muss in seiner Rolle als Experte nur ein paar WM-Wochen an der Copacabana verweilen und gelegentlich Fragen seines Moderationspartners Oliver Welke beantworten. Das Ganze für ein ordentliches Salär, versteht sich. Aber so ist Oliver Kahn nicht. Der Mann, der früher Gegen- und an schlechten Tagen auch Mitspieler mit Blicken auffressen konnte, arbeitet auch beim Zweiten Deutschen Fernsehen nicht unter dem Einsatz von exakt 100 Prozent.
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Einen Profi wie Oliver Welke, abgehärtet von Jahrzehnten nonchalantem Fußballfernsehjournalismus, belustigt das ein wenig. Er sagt nach Kahns Monolog leicht spöttisch: "Ich find' das super, dass du das so persönlich nimmst, Oli. Das spricht ja auch für dich." Subtext: Jetzt hab' dich halt nicht so! Das ist sogar Kahn etwas peinlich, soweit jemandem mit dem Selbstverständnis eines Oliver Kahn Dinge eben peinlich sein können. Er sagt: "Ach so, 'Tschuldigung, war halt ein bisschen emotional."
Oliver Kahn, ehemals Welttorhüter, Ehrgeizling und Von-sich-in-der-dritten-Person-Sprecher, interpretiert seine Rolle als TV-Experte tatsächlich anders als die mannigfaltigen Expertenkollegen, die durch das deutsche Fernsehen turnen. Er ist nicht so eloquent wie Vorgänger Jürgen Klopp, nicht so knuddelig wie ARD-Pendant Mehmet Scholl. "Schon als Spieler war ich der Disziplinierte, der Gradlinige und Mehmet der Lockere, der immer einen coolen Spruch auf den Lippen hat", hat Kahn vor der WM im Interview mit dem Tagesspiegel gesagt. Das setze sich in ihren jetzigen Jobs bei ARD und ZDF "ein Stück weit" fort.
Doch trotz aller Gradlinigkeit und Emotionalität gibt es natürlich noch immer viel, teils berechtigte, Kritik an dem ZDF-Fußball-Experten Oliver Kahn. Da werden Phrasen gedroschen, taktische Zusammenhänge bestenfalls holprig erklärt, dazu wirkt der 100-Prozent-Mann Kahn qua Selbstverständnis gelegentlich sehr bemüht bis verkrampft. Aber, und auch das muss anerkennen, wer sich alte Kahn-Ko-Moderationen mit Johannes B. Kerner oder später Katrin Müller-Hohenstein ansieht: Kahn hat sich massiv gesteigert, nicht nur, was die Rhetorik angeht.
Natürlich ist die zunehmende Vermeidung von "Ähhs" in Kahnschen Antworten sehr angenehm, ebenso das Weglassen heftigen Einschnaufens, um vor einer Antwort noch etwas Bedenkzeit zu gewinnen. Ab und an wagt sich der 45-Jährige sogar auf humoristisches Terrain. Hier ein Auszug aus der Analyse des Achtelfinals der USA gegen Belgien vom vergangenen Dienstag:
Kahn: "Man muss auch Tim Howard als Torwart der USA herausheben."
Welke: "Einer der fünf Besten auf der Welt, sagt Jürgen Klinsmann."
Kahn (leicht grinsend): "Wenn er das sagt."
Der Hintergrund für diesen Dialog: Vor der WM 2006 hatte der damalige Bundestrainer Jürgen Klinsmann DFB-Stammtorhüter Kahn durch Jens Lehmann ersetzt. Kahn fügte sich jedoch in die ungewohnte Rolle als Nummer zwei und bestritt später im Spiel um Platz drei sein letztes Länderspiel.
Eine kleine, humoristische Spitze, das hätte Oli Kahn bei der EM 2012 und den zurecht so vielkritisierten hölzern-spröden Moderationen mit Katrin Müller-Hohenstein auf der fragwürdigen ZDF-Bühne auf Usedom nicht passieren können. Die Show von KMH und Kahn kam der Frankfurter Rundschau vor, "als würde eine Touri-Suse von Sonnenschein-TV den Strandkorbverleiher von Boltenhagen interviewen". Obschon das ZDF sein Duo damals verteidigte, wurde Müller-Hohenstein für Brasilien 2014 zum Führen weitgehend erkenntnisloser Interviews im DFB-Quartier Campo Bahia verdonnert. Kahn durfte bleiben und spielt sich nun mit Oliver Welke die Bälle etwas reibungsloser zu.
Manchmal aber erzeugt Welke mit seiner viel zu väterlichen Attitüde doch etwas Reibung. Nach dem Spiel zwischen Deutschland und Algerien etwa so: "Das ist vielleicht die schlechte Nachricht aus deutscher Sicht, dass du dich heute in gar keiner Phase als deutscher Zuschauer mal sicher fühlen durftest." Dann darf man ob so viel Plattheit froh um eine angemessen motzige Kahn-Replik sein: "Will ich nicht, bei einer WM will ich mich nicht sicher fühlen. Das ist doch WM hier, das gehört doch dazu. Hallo?!"