Youtube-Hetzjagd:Ein Ort für anonymen Hass

Ein Youtube-Video entfacht die Hetzjagd auf einen kranken Jungen. Kein Einzelfall, denn das Netz ist häufig ein Ventil für grundlosen Hass. In der Öffentlichkeit wird das Thema Online-Mobbing viel zu selten thematisiert.

Von Johannes Boie

Für eine Minute und 44 Sekunden ist der Junge im Bild zu sehen. Er sieht nicht gesund aus. Er macht ein paar Bemerkungen über das Fastfood, das er isst, er sagt, es schmecke ihm nicht. Es sei schlecht zubereitet. Der Junge spricht überlegt, er klingt ein wenig, als imitiere er einen professionellen Restaurantkritiker. Es ist ein lustiges, belangloses Video, eines von vielen Millionen im Internet.

"Der frisst wie ein Schwein", schreibt ein Nutzer unter das Video als Kommentar.

Ein zweiter Blick, ein flüchtiger zweiter Blick würde reichen, um zu sehen, dass der Junge nicht gesund aussieht. Er sieht irgendwie aufgedunsen aus.

"Er war für mich so etwas wie ein Bruder", sagt Jessica Blume über den Jungen. Sie ist heute 18 Jahre alt. Eigentlich heißt sie anders, aber diese Geschichte soll so erzählt werden, dass es möglichst schwer ist, das Video und die Beteiligten im Netz wiederzufinden. Der Junge war 14 Jahre alt, als das Video gedreht wurde und dann im Netz auftauchte.

"Unverantwortlich", schreibt ein zweiter Nutzer unter das Video, "da sollte schon das Jugendamt einschalten." Es geht nicht darum, vollständige Sätze zu bilden. Es geht darum, Druck abzulassen. Es geht dann Schlag auf Schlag. Das fette Schwein, wie der frisst, der Idiot, immer weiter, immer schlimmer, immer vulgärer.

Anonymer Hass

Man kann das Video also lustig oder belanglos finden. Oder man kann den Jungen, der darin zu sehen ist, ohne weiteren Grund mit Hass, Abscheu, Wut, Gemeinheit und Niedertracht überschütten. Tausende entscheiden sich im Jahr 2010 für die letzte Option. Das Video von dem Jungen wird damals eine kleine virale Sensation im deutschsprachigen Netz.

Die Frage ist jetzt: Warum? Warum vergessen Menschen sich dermaßen, vor allem im Netz?

"Ein Grund ist, dass es keine Perspektivenübernahme gibt und keine Empathie, weil man nicht an der Reaktion des Gegenüber sehen kann, ob er verletzt wird", sagt Psychologieprofessor Herbert Scheithauer von der FU Berlin. Niemand sieht den Jungen, wenn er die Beleidigungen liest. Dass er getroffen wird, bleibt sein Problem, und wenn er niemanden findet, mit dem er sprechen kann, bleibt er damit alleine.

Drei Phänomene hat Scheithauer im Hetzen der Masse ausgemacht: persönlichkeitspsychologische, sozialpsychologische und solche, die durch das Medium Internet bedingt sind. Im Fall des Jungen mit seinem Fastfood sind sie alle in den Kommentaren zu dem Video zu erkennen.

Eine tragische Geschichte

Jessica Blume, die beste Freundin des Jungen, sagt, sie habe noch versucht, mit ihm Kontakt zu halten, als der Krebs in seinem Kopf schon wucherte. Sie wollte ihn besuchen, aber er war in die nächste Großstadt gezogen, sie lebte fernab auf dem Land. Und damals, 2010, war sie erst 15. Ihr Freund war nur Monate nach ihr geboren, die Eltern Bekannte. Sie wuchsen zusammen auf, sie spielten gemeinsam, sie besuchten dieselbe Klasse bis zum Ende der Grundschule und dann noch dieselbe Schule. Bis der Junge krank wurde. Der Krebs wurde im Januar 2010 diagnostiziert.

Im Herbst deselben Jahres sind es erst Hunderte, dann Tausende Kommentare unter dem Video, das nun an vielen Stellen, auf verschiedenen Seiten im Netz zu finden ist: "Das is aber auch nen fettes schwein, so ein sollte man ins sportlager schicken."

"Wegen der Chemo und durch das Cortison ist er so dick geworden", sagt Jessica Blume. Der Hass wäre nicht weniger unfair gewesen, wenn der Junge nicht krank gewesen wäre. Wenn er dick gewesen wäre, weil er gerne zu viel gegessen hätte. Wenn er ein gesunder Schüler gewesen wäre, mit strahlender Zukunft. Tausenden geht es täglich so im Netz. Ihre Geschichten werden nie erzählt, sie leiden im Stillen.

Die Gruppe folgt

"Wenn eine Gruppe im Netz hetzt", sagt Scheithauer, "dann sieht sie das Ernsthafte hinter ihrem Tun nicht. Einzelne machen mit, weil alle mitmachen." Aber alle machen mit, weil sich jeder Einzelne dafür entscheidet. Zu Belohnung, wird man Teil einer Gruppe, auch dann, wenn man alleine vor dem Bildschirm sitzt.

Dabei gibt es durchaus Menschen, die sich gegen den Hass entscheiden, sie klicken weiter, zum nächsten Video, oder schalten den Computer aus. Anders als im Leben jenseits des Netzes, reicht Wegsehen im Digitalen aber nicht aus, um den Hass zu stoppen. "Das Netz verleitet schnell zur Ansicht: Alle sind meiner Meinung", sagt Scheithauer. "Auf der Straße würde man diejenigen sehen, die am Opfer vorbeilaufen, statt draufzuhauen. Online sieht man sie nicht." Es mangelt dann an guten Vorbildern. Schweigen ist zu wenig.

Am 21. September 2010 schreibt der Junge, auf einem sozialen Netzwerk, auf dem er nicht als der Junge aus dem Video zu erkennen ist, dass er nun einen Rollstuhl habe: "nachher gleich in die Stadt *WOHOO". Er kämpft nun an zwei Fronten. Gegen die Krankheit und gegen das Video, das entstanden war, als er mit Freunden, mit denen er sonst Computer spielte, einen Ausflug unternommen hatte.

Die Feindseligen

Sein Vater engagiert Anwälte, die Juristen sorgen dafür, dass das Video aus dem Netz verschwindet. Irgendwelche Menschen sorgen dafür, dass es wieder hochgeladen wird. Das sind die Feindseligen.

"Die Feindseligen bilden die zweite Gruppe neben den Mitläufern", sagt Scheithauer. Es sind Menschen mit verminderter Empathie. Wenn es schlecht läuft, werden sie zu Anführern der Meute. Es läuft oft schlecht im Netz, und die Feindseligen haben oft die Technik auf ihrer Seite. Ein gelöschtes Video ins Netz wieder hochzuladen, ist sehr leicht. Das Video eines anderen im Netz löschen zu lassen, ist sehr schwer.

Ein paar Wochen später nur, es ist noch immer Herbst 2010, schreibt der Junge: "Ich bin bereit." Bereit zu sterben, meint er. Mit 14 Jahren hat er den Kampf verloren, an beiden Fronten.

"Das musste er sich in seinen letzten Wochen alles noch anhören", sagt seine Freundin, die Monate lang zugesehen hat, wie der Junge alles verlernt hat, von Fahrradfahren bis Kopfrechnen, während im Netz der Hass brodelte. "Wie die den fertiggemacht haben." Im November 2010 stirbt der Junge.

Online-Mobbing bleibt kein Einzelfall

Nur die tragischsten Fälle von Online-Mobbing schaffen es so in die Medien, dass sie reflektiert und erklärt werden, dass sie in Lehrbüchern für Schüler landen. Menschen, die bis in den Tod getrieben werden, durch Kommentare im Netz, wie die fünf britischen Teenager, die in diesem Jahr im Netz auf der Seite ask.fm zum Teil direkt zum Suizid aufgefordert wurden, von irgendwelchen Fremden.

Oder Menschen, die ärztliche Behandlung benötigen. Wie das Teenager-Mädchen, das auf einem Eminem-Konzert unvorsichtigerweise Sex hatte und dabei fotografiert wurde. Die Bilder landeten im Netz, und das Mädchen wurde weltweit von Millionen Nutzern wochenlang im Netz gemobbt: Schlampe, Hure, Nutte. Der Mann, mit dem die junge Frau zugange war, wurde in vielen Foren als Held gefeiert. Immer so, wie die Feindseligen es vorgeben. Die Gruppe folgt.

Aufruf zur Mäßigung

Die Tausenden anderen Fälle sind auch in den Medien, aber ganz anders. Sie finden auf Youtube und Facebook statt, auf Twitter, gutefrage.net und wie sie alle heißen. Auf Foren für Teenager, die kaum ein Erwachsener kennt. Sie alle bleiben unterhalb der Wahrnehmungsgrenze einer kritischen Öffentlichkeit. Dann ist der Hass unerbittlich, Gegenwehr kaum unmöglich.

Gegen die Mechaniken helfe nur Bildung, sagt Scheithauer. "In unserer Intuition fehlen Möglichkeiten, auf die neuen Medien zu reagieren." Immerhin: Aus den bekannten Fällen lernt die Gesellschaft wenigstens ein bisschen. In den jüngsten, großen Hetzjagden im Netz waren stets auch Stimmen zu hören, die zur Mäßigung rieten. Bei der Jagd auf die Bomber von Boston, bei der sich online Tausende als Digitalermittler aufspielten und zahlreiche Unschuldige verdächtigten, mehrten sich schnell Kommentare, die verlangten, man möge der Polizei das Ermitteln überlassen.

Unfreiwillige Netz-Karriere

Im Netz lebt der Junge übrigens weiter, wider Willen. Es gibt und gab auch schon im Herbst 2010 ein paar Kommentare unter dem Video, in denen Menschen schrieben, dass er krank ist, oder wenigstens, dass er krank sein könnte. Ein paar wenige feiern ihn als Held der Internetkultur, eine Kultur, von der niemand weiß, ob sie ihm gefallen würde. Die Geschichte seines Lebens legt nahe, dass er ein anderer Held war. Ein Amateur-Rapper hat einen Song über das Video geschrieben, mit Musikvideo, in dem der Junge als Comicfigur auftaucht, es steht natürlich auf Youtube.

"Das hat mich irgendwie noch mehr kaputt gemacht. Ich kann das bis heute nicht in Worte fassen, das ist einfach nur schockierend", sagt seine Freundin Jessica über den digitalen Mob, sie klingt ratlos.

Schon lange verbreitet sich langsam das Gerücht im Netz, dass der Junge tot sein könnte. Kommentar: "Also in den Himmel kommt er sicherlich nur mit dem Schwerlastkran."

Man wünscht denjenigen, die so schreiben im Netz, dass sie eines Tages zufällig Jessica Blume kennenlernen, im Zug, bei der Arbeit, irgendwo. Und dass sie ihnen erzählt, von ihrem Freund, der viel zu jung gestorben ist, während im Netz Tausende über ihn lachten.

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