Wulff-Prozess bei "Anne Will":Toxische "After Eight"

Anne Will

Liefen die Staatsanwälte im Wulff-Prozess Amok? Der Vorsitzende des Niedersächsischen Richterbundes Andreas Kreutzer (links) und die ARD-Journalistin Sarah Tacke (Mitte) sahen das bei Anne Will nicht so.

(Foto: NDR/Wolfgang Borrs)

War es gerecht, Christian Wulff vor den Kadi zu zerren? Eine heftig diskutierte Frage. Kurz vor der Urteilsverkündung gewann die Debatte allerdings an Qualität. Auch wenn die Schuldfrage bei Anne Will an hauchzarten Minzblättchen festgemacht wurde.

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Als Horst Köhler im Mai 2010 vom Amt des Bundespräsidenten zurücktrat, hallte das in der Öffentlichkeit nicht lange nach. Warum auch? Es war das dürftige Ende einer kleinen Präsidentschaft.

Der Rücktritt von Christian Wulff beendete ebenfalls eine kleine (vor allem: kurze) Präsidentschaft, deren Ende das Land aber auch noch nach zwei Jahren umtreibt. Denn was dem Rücktritt folgte, war das erste Strafverfahren gegen einen Bundespräsidenten - ein gefundenes Fressen für die Talkshows des nach Skandalen lechzenden Fernsehbetriebs: Beim Prozessauftakt im Herbst stürzten sich Maischberger, Plasberg und Co. auf die Causa - jetzt, am Vorabend, der Urteilsverkündung, war ARD-Frau Anne Will mit ihrer Runde dran.

Und wie sich zeigte, war die frühere Tagesthemen-Moderatorin gut beraten, mit ihrer Wulff-Sendung länger zu warten als die Kollegen. Denn der Prozess hat den Blick der Öffentlichkeit inzwischen mehr auf die rechtlichen und medialen Fragestellungen dieser Affäre gelenkt, was ihrer Aufarbeitung dienlicher ist als die willkürlich erscheinende Bewertung von Mallorca- oder Sylt-Urlauben bei dubiosen Freunden. Das wohlfeile und eher emotional begründete Urteil, das sich etwa die Society-Reporterin Sibylle Weischenberg im vergangenen November bei Maischberger über Wulff erlaubte ("Noch'ne Villa und hu"), war in dieser Sendung zumindest nicht gefragt.

Vielmehr rangen hier zunächst Rechtsexperten hart um die richtige Einschätzung des Verhaltens der Staatsanwaltschaft Hannover. Einer Behörde, die in der Öffentlichkeit inzwischen schlecht wegkommt. Sie gilt wegen des Wulff-Verfahrens als besessen und stur.

Ein Hohelied auf den segensreichen Rechtsstaat

Entlang dieser Frage bildete sich auch bei Anne Will die Meinungsfront - zwischen der juristisch ausgebildeten ARD-Reporterin Sarah Tacke und dem Braunschweiger Strafrichter Andreas Kreutzer auf der einen Seite sowie dem Linken-Politiker Diether Dehm auf der anderen Seite. Promi-Anwalt Christian Schertz pendelte zwischen den Lagern.

Und ihre Diskussion bot an manchen Stellen tatsächlich neue Einsichten. Weniger weil Kreutzer als Angehöriger der niedersächsischen Justiz ein Hohelied auf unseren segensreichen Rechtsstaat anstimmte, was für ihn offenbar gleichbedeutend mit dem Umstand ist, dass die Staatsanwaltschaft so gut wie immer recht hat (konkret in diesem Fall: "Nicht verrannt").

Und auch weniger, weil Dehm einmal mehr seinem neu erworbenen Ruf als unbarmherziger Rächer des Christian Wulff in derzeit so gut wie jeder Talkshow zu dem Thema gerecht wurde, was für ihn wiederum bedeutet, dass sich diese spezielle Staatsanwaltschaft total vergaloppiert hat ("berserkerhafte Verbissenheit").

Sondern, weil Tacke und Schertz ihre Beobachtungen als Prozessteilnehmer in Hannover einbrachten. Erstaunlich: Plötzlich wirkten die dortigen Staatsanwälte nicht mehr ganz so stur, wie sie derzeit landauf, landab wahrgenommen werden.

Promi-Anwalt Schertz konnte etwa differenziert und nachvollziehbar begründen, warum die Anklageerhebung gegen Wulff wegen Vorteilsannahme schon aus logischen Erwägungen heraus auf sehr dünnem Eis gebaut, die Aufnahme der Ermittlungen aber alternativlos war. Reporterin Tacke überraschte wiederum mit ihrer Einschätzung, dass die Staatsanwaltschaft sehr lange offen für jeden möglichen Prozessverlauf gewesen sei und sogar das Verfahren habe einstellen wollen.

Sehenden Auges in die Blamage gelaufen

Ein starkes Argument konnte Links-Politiker Dehm für seine Sicht der Dinge trotzdem landen: Der Freispruch für Christian Wulff ist für die Staatsanwaltschaft ein herber Gesichtsverlust. Dehms berechtigte Anschlussfrage: Warum liefen die Strafverfolger sehenden Auges in diese Blamage, wenn nicht aus Verbissenheit?

Die Antwort darauf wird vielleicht nie gegeben werden können, und vielleicht ist sie auch weniger wichtig als die Antwort auf eine weitere Frage, der sich die Runde nach dem Schlagabtausch über das staatsanwaltschaftliche (Fehl-)Verhalten zuwandte. Da machte sich Moderatorin Anne Will zum ersten Mal nachhaltig bemerkbar, indem sie sich erkundigte: "Sind die Medien schuld daran, dass Wulff zurücktreten musste?"

Eine Frage, die einen sensiblen Punkt berührt und wie gemacht war für einen der wenigen Nichtjuristen der Runde - den Medienwissenschaftlers Bernhard Pörksen. Und auch der lieferte überraschende Einschätzungen: Die Bild-Zeitung sprach er etwa so gut wie von jeder Schuld in der Causa Wulff frei - das Boulevardblatt habe lediglich seine Aufgaben wahrgenommen und "investigativ recherchiert" in der "gesellschaftlich wichtigen Frage nach der möglichen Korrumpierbarkeit" des Bundespräsidenten. Selten wirkte Bild unschuldiger.

Bestechung mit Minzblättchen

Die 17 Punkte, die sich in der Wulff-Berichterstattung des Blatts im Nachhinein als "Bullshit" (Dehm) herausstellten, bewertete Pörksen ebenfalls auffällig gnädig als "legitime Skandalisierung mit einzelnen Grenzüberschreitungen". Überhaupt sei die Bild-Zeitung nicht als einziges Medium auf den Wulff-Zug aufgesprungen: Die berühmte "Bobbycar"-Anfrage sei schließlich vom Stern gekommen und die verrückteste Geschichte habe die seriöse FT geliefert: Als Christian Wulff vor 30 Jahren Schülersprecher habe werden wollen, hätte er seine Mitschüler mit "After Eight"-Minzblättchen bestochen.

Ein menschlicher Abgrund, wie man ihn sich tiefer kaum vorstellen zu vermag. Spätestens da sei für Wulff eine "toxische Situation" entstanden, so Pörksen. Und für die habe niemand anderes die Hauptverantwortung getragen als der damalige Bundespräsident selbst: "Christian Wulff hat es nicht vermocht, Deutungshoheit zu gewinnen." Der Ex-Bundespräsident habe versucht, die angestoßene Debatte über seine Person zu kontrollieren und habe dadurch alles nur noch schlimmer gemacht.

So kann man das sehen, und dass Wulff Fehler gemacht hat, will am Schluss nicht einmal Diether Dehm bestreiten. Doch dann stellt der Linken-Politiker auch an diesem heiklen Punkt eine berechtigte Frage: Muss einer gehen, nur weil er in einer Affäre ein schlechtes Bild abgibt, ihm aber strafrechtlich nichts vorzuwerfen ist?

Damit wären wir bei einer Werte-Diskussion, für die die Talkshows im deutschen Fernsehen vielleicht erst bereit sein werden, wenn sich die Gemüter im Fall Wulff nach Abschluss des Verfahrens weiter abgekühlt haben. Doch schon einmal juristische und mediale Aspekte dieses Falls einigermaßen sachlich beleuchtet zu haben, hat auf dem Weg dahin immerhin geholfen. Die Sender können schon mal anfangen, sich nach Talkshow-geeigneten Philosophen und Ethikern umzusehen.

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