Süddeutsche Zeitung

Wissenschaftliche Tagung zum "Tatort":Wie der Wagen, so der Kommissar

Der "Tatort" ist für viele Familien das letzte gemeinsame Ritual. Wissenschaftler aus ganz Deutschland haben nun auf einer Tagung in Göttingen die Krimi-Reihe als gesellschaftliches Phänomen untersucht.

Von Jens Schneider, Göttingen

Mal ist es eine 64er Corvette, die der Kölner Kommissar Freddy Schenk steuert. In einem anderen Tatort fährt er ein Plymouth Valiant Signet Convertible aus dem Jahr 1966. Stets kommt der Ermittler breitreifig in amerikanischen Straßenkreuzer daher, die im kriminellen Milieu konfisziert wurden. Einmal verleiht er die Limousine und muss sich den Mini seiner Sekretärin borgen. Rolf Parr von der Universität Duisburg-Essen hat die kurze Szene aus einem Tatort von 2012 mitgebracht. Schenk wirkt in dem Filmschnipsel, als hätte er ein Etuikleid seiner Kollegin angezogen.

Der Literaturwissenschaftler Parr spielt die Szene den Gästen einer außergewöhnlichen wissenschaftlichen Tagung der Georg-August-Universität Göttingen vor, die sich der ARD-Serie Tatort widmet. Und löst so die wohl schönste Art des Erkenntnisgewinns aus: Die Zuhörer kichern - und begreifen zugleich. Parr beschreibt die Filmszene als eine "vollständige Innenraumausfüllung", die eindeutig zeige, dass dieser Tatort-Kommissar in einen Straßenkreuzer gehöre. Das Auto ist sein Charakter-Pendant: Mit Schenks üppigem Körper korrespondiere die "nicht minder üppige Körperlichkeit amerikanischer Wagen". Und dass Schenk in Köln an beschlagnahmte Autos kommt, sei dazu eine "recht gelungene Illustration dessen, was der Volksmund Kölner Klüngel zu nennen pflegt".

Parr ist ein Experte für die Rolle des Autos als "Vehikel, Charakter-Pendant und Mittel zur Raum-Erkundung" im Tatort. Sein Vortrag zählte zu den Perlen der Tagung zu dieser letzten großen Instanz des deutschen Fernsehens, die sogar noch einen Aufschwung erlebt. Es ist ein Quotenerfolg seit 42 Jahren mit heute 890 Filmen und immer mehr neuen Ermittlerteams.

Längst gilt die Reihe als "das Archiv der deutschen Gegenwartsgeschichte". Man sieht, wie Schrankwände Wohnungen prägten, wie Anzüge in den Siebzigern zu sitzen hatten und welche Blusen in den Achtzigern getragen wurden. In Wiederholungen aus den Siebzigern sähen ihre Studenten die Welt der Eltern und Großeltern, wie sie damals erzählt wurde, berichtet Claudia Stockinger. Die Philologin arbeitet mit Kollegen in Göttingen an einem großen Forschungsprojekt zum Tatort. Sie gehört zu den Initiatoren der Tagung, auf der ein Referent den Erfolg auf eine schlichte Formel brachte: Den nächsten Tatort guckt man auch, wenn der letzte langweilig war.

Er ist für viele Familien das letzte gemeinsame Ritual. Dafür treffen junge Erwachsene die Eltern, um zu gucken, was sie als Kinder nicht durften. Was aber macht den Erfolg aus, und was macht der Tatort mit dem Land? Die akademischen Ermittler auf der Tagung offenbaren sich durchgehend als Tatort-Fans. Auch sie sind mit Schimanski oder Lena Odenthal groß geworden. An der Universität Lüneburg hat der Medienwissenschaftler Hendrik Buhl analysiert, wie der Tatort "öffentlich-rechtliches Politainment" versuche und politische Themen in den Mittelpunkt stellte, etwa die Arbeitsbedingungen bei Discountern - für ihn gelungenes Bildungsfernsehen, leicht verdaulich.

Ermittler sind mit den Jahren psychologisch brüchiger geworden

Dabei gehört oft zum Schema, dass der größte Bösewicht nicht der Täter ist. "Der sitzt in der Vorstandsetage und grinst, und Schimanski darf mal wieder eine Tür eintreten", bemerkte Joan K. Bleicher vom Institut für Medien und Kommunikation der Universität Hamburg, die sich mit der Entwicklung der Täterprofile über die vier Jahrzehnte beschäftigte. Der Tatort, wurde eben in einer Zeit gegründet, als man Fernsehen noch als einen Katalysator gesellschaftlicher Veränderung verstand.

Davon ist viel geblieben, auch wenn die Ermittler psychologisch brüchiger geworden sind, Kommissare mit Knacks - ein Qualitätssprung, den der Erfolg der grandiosen britischen Serie "Für alle Fälle Fitz" auslöste. Als Gast aus der Praxis berichtete Melanie Wolber, verantwortlich für die Odenthal-Tatorte des SWR, wie wichtig ihr sei, die Kommissarin in ein Milieu zu entsenden, in das der Normalbürger nicht komme: "Wir sind gesellschaftsabbildend, sollten aber auch visionär sein." Wolber bekannte, dass sie im "extrem männerdominierten deutschen Fernsehen" auf neue Rollen für Frauen pocht. Die Drehbuch-Autoren würden schon sensibler: Inzwischen werde, immerhin, häufiger von Frauen als Mörderinnen erzählt, nicht nur als Opfer. Es geht aufwärts.

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SZ vom 24.06.2013/noa
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