ARD-Filmintendantin Karola Wille über Dokus:"Ganz neue Räume"

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Es geht "nicht nur noch in die andere Nutzungswelt", also um die Mediathek, wie manche vielleicht meinen, sagt MDR-Chefin Karola Wille. (Foto: picture alliance/dpa/dpa-Zentral)

Die MDR-Intendantin Karola Wille sieht neue Chancen für Dokumentarfilmer nach der großen Programmreform der ARD - auch durch eine neu aufgestellte Mediathek.

Interview von Clara Meyer

Karola Wille, Juristin, Intendantin des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR) und Filmintendantin der ARD, sitzt vor einer knallblauen Wand. "Mitten in Deutschland. Mitten im Leben" steht darauf, es ist der Slogan der Rundfunkanstalt in Leipzig - so präsentierte sich der MDR auch bei der DOK Leipzig, dem Internationalen Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm Ende Oktober. Dem Schauplatz für die ARD-Programmwerkstatt, einem jährlichen Treffpunkt, an dem Produzierende dokumentarischer Formate und die ARD-Verantwortlichen zusammenkommen.

Karola Wille war die Gastgeberin. Als Filmintendantin der ARD ist sie zuständig für den Dialog mit Produzenten-Verbänden und den Kreativen der Film- und Fernsehbranche. Sie ist aber auch gefragt, wenn zum Beispiel die Produzenten mit der ARD über Vergütungsregeln für die digitale Welt - sprich für Mediatheken - verhandeln. Die Programmwerkstatt war für die Beteiligten ein erster wichtiger Termin seit Verkündigung einer großen Programmreform für das Erste durch ARD-Programmdirektorin Christine Strobl zwei Wochen zuvor. Auch die Mediathek soll neu aufgestellt werden, die Grundidee: Mehr Nutzer sollen über die Mediathek zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk finden, mehr Formate sollen also so gebaut sein, dass sie in der Abrufwelt gut funktionieren. Strobls Botschaft klang so, als müssten auch Filmemacher ihre Produkte da durchaus anpassen.

Formate, Längen, Zielgruppen - alles wird gerade neu verhandelt, auch im Dokumentarfilm

Im Gespräch mit der SZ relativiert Karola Wille diesen Eindruck: Die angekündigte Programmreform solle das Dokumentarische stärken - und zwar sowohl in der Mediathek als auch im Ersten Deutschen Fernsehen. Es gehe nämlich eben "nicht nur noch in die andere Nutzungswelt", sagt die MDR-Intendantin. Also um die Mediathek, wie manche vielleicht meinen. Auch das lineare Programm werde neu gedacht, unter anderem mit dem Ziel, jüngeres Publikum zu erreichen.

Auf Produzentenseite findet das Zustimmung. Dennis Leiffels ist Regisseur und Geschäftsführer der Produktionsgesellschaft "Sendefähig", die Dokumentationsreihen wie Y-Kollektiv, Rabiat oder Arte Reportage für verschiedene öffentlich-rechtliche Programme produziert und dabei den Fokus auf eine junge Zielgruppe legen. Diese würde laut Leiffels geradezu nach investigativen Formaten lechzen: Für junge Filmemacher sei die Neuausrichtung der ARD-Mediathek "eine Riesenchance, die Themen einer jungen Generation aus der Perspektive einer jungen Generation anzusprechen".

Eine wichtige Rolle für die Stärkung solcher Doku-Formate nimmt der Montagabend im Ersten ein, der zum "Informationsabend" umstrukturiert werden soll. Der Primetime-Sendeplatz um 20.15 Uhr soll ein "Schaufenster für die besten dokumentarischen Produktionen" werden, erläutert Wille. Was das genau bedeutet für die Kreativen, wenn sie mit der Reform-ARD ins Geschäft kommen wollen? Wille nennt als Stichworte hochwertige Produktionen, Vielfalt an Perspektiven, saubere Recherche. Das Besondere an dokumentarischen Produktionen sei ja, dass sie "mit einer Tiefenschärfe gesellschaftliche Wirklichkeit beleuchten" und auf diese Weise viel Stoff zum Diskutieren bieten. Über Politik, Wirtschaft, Kultur, Geschichte, Sport. Aber auch Nischenthemen. Man wolle ja bestimmte Zielgruppen erreichen.

Bisherige Einengungen fallen auch durch die medialen Möglichkeiten der Mediathek weg, glaubt Wille. Formate würden fortan teilweise zuerst oder sogar ausschließlich in der Mediathek zu sehen sein. Dagmar Biller, Produzentin und Geschäftsführerin von "Tangram Film", sieht in diesen Freiheiten "eine gewaltige Chance", die sie nutzen will: "Wir Produzentinnen und Produzenten sind jetzt gefordert, die Programmreform mit Leben zu füllen, inhaltlich und formal auch mal neue Wege zu gehen." Die Handschrift der Autoren würde fortan eine viel größere Rolle spielen, ergänzt Biller. Und auch Susanne Binninger, Produzentin und Vorsitzende der AG DOK , erkennt das neue mediale Potenzial: "Die Mediatheken könnten Labor und Plattform für echte Innovationen sein." Sie bezeichnet den Wandel als ein positives Zeichen. Deutschland würde sich mit dem Stärken der Mediathek und dem Programmschwerpunkt im linearen Fernsehen einem internationalen Boom stellen. Dieser Boom ist im großen Dokumenationsangebot internationaler Streamingdienste wie Netflix oder Amazon Prime erkennbar, auf die auch Leiffels hinwies. Im gleichen Atemzug nannte er jedoch auch "Funk", das junge Content-Netzwerk der Öffentlich-rechtlichen.

Beispiel für Produktionen für den Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk von "Sendefähig": Die Doku-Reihe "Rabiat". (Foto: Das Erste/Screenshot)

Die Frage, ob dann nur noch klickstarke Dokumentationen produziert werden, verneint Wille. Auch Leiffels unterstreicht, dass die journalistische Arbeit diesselbe bleibe, die weiterhin den hohen Standards von öffentlich-rechtlichen Produktionen verpflichtet sei. Doch der Anspruch an die Filmemacher wäre ein anderer. Um erfolgreich zu sein, müsse man auf Augenhöhe mit den Zuschauern sein: "Die junge Zielgruppe erwartet seriösen, transparenten Qualitätsjournalismus und die Korrektur von Fehlern." Sie möchte nicht unterfordert werden, sondern einen "Muskelkater der Synapsen" erleben. Aber was beansprucht die Synapsen? Leiffels stellt klar, dass damit kein Anbiedern bei den Zuschauer gemeint ist, also auf Krampf jung und hipp sein. Stattdessen fordert er authentische Formate. Das seien sie dann, wenn die Filmemacher "auch mal sagen, wo sie gescheitert sind, was man weiß, aber auch was man nicht weiß".

Außerdem würde sich die Vermarktung der Dokumentationen verändern. Man müsse mittlerweise aktiv auf die Zuschauer zugehen, fordert er. Auch Wille prophezeit ein Weiterentwickeln des Genres, welches gerade durch die neuen Gestaltungsmöglichkeiten der Mediathek geprägt werde. Es "öffnen sich ganz neue Räume für neue Formate, neue Längen, Zielgruppen und neue Erzählweisen". Das erweitere den kreativen Spielraum. Produzierende können aus einem strengen Korsett der bisher üblichen Vorgaben ausbrechen. Allerdings, und das betonen alle befragten Produzenten, könnte man diese Chance nur nutzen, wenn die dafür notwendigen Budgets gestellt werden. Der ARD muss es gelingen, Mittel entsprechend zu bündeln, fordert Biller.

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Mit den neuen Möglichkeiten digitaler Erzählformen bricht Wille zufolge "eine Sternstundenzeit für Dokumentationen" an. Die Dokumentarfilmer werden die Botschaft gerne hören, aber die ARD an diesem Anspruch messen.

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