Süddeutsche Zeitung

"Tatort" aus Wien:Wien liegt am Meer

Lesezeit: 2 min

Eine Kommissarin, die schwer an der Welt leidet, eine ermordete Prostituierte und über allem das Geräusch von Wellen: Der Wiener "Tatort" ist ein fulminanter Krimi.

Von Claudia Tieschky

Dieser sehr gute Tatort aus Wien bekommt leider Punkteabzug. Warum? Weil der Mann, der Frauenkleider trägt, die hässliche Freakshow liefern muss. Das ist echt Moral aus den Fünfzigern, Lichtjahre vor Harry Styles, einfach uncool.

Anlass zu Sorge gibt der Zustand von Bibi Fellner. Die Ermittlerin ist übermüdet und im Gesicht beinah so grün wie die Laken auf dem Bett in ihrer Altbauwohnung. Vor dem Fenster liegt die Stadt. "Ich kann nicht schlafen, ich halt diese Welt einfach nicht aus", klagt Bibi, die eigentlich nicht zu ausschweifenden Erklärungen neigt, sondern die strenge Brille aufsetzt und mit dem Kollegen Eisner (Harald Krassnitzer) erschöpft und schlecht gelaunt die Arbeit aufnimmt.

Bibi Fellner trägt das Leid der Welt mit sich herum

Der Mord an einer Prostituierten, um den es in der Episode "Die Amme" geht, ist äußert blutig, ausgeführt mit einem ungewöhnlichen Dolch, und ein Kind wird entführt, es ist schon das zweite. Die verschwundenen Kinder und Wien, da klingt David Schalkos Serie M - eine Stadt sucht einen Mörder an, aber hier, im Tatort, gibt es keine Massenhysterie und keine Öffentlichkeit, nur Bibi, die wegen der Kinder keine Ruhe findet. Die Schauspielerin Adele Neuhauser hat mit dieser Figur auf großartige Weise schon so viel unstetes Leben hinter sich, das die Kommissarin stets mit Gleichmut nimmt. Diesmal fällt ihr das schwer, sie trägt das Leid der Welt mit sich herum, es kreist der Große Schwarze Vogel. Da konterkarieren Regisseur Christoph Schier und Drehbuchautor Buch Mike Majzen auf bemerkenswerte Weise das Verbrechen als Unterhaltungsfaktor, also den handelsüblichen Fernsehkrimi.

Den sie trotzdem natürlich prima beherrschen: Die Spannung hält unbedingt, Eisner und Fellner ermitteln gegen die Zeit, man sieht sie in die Irre laufen, weil man ja schon längst viel mehr weiß als die Kommissare, ein Zeuge mit eindrucksvollem Vokuhila fällt aus dem Fenster. Eisner ist fürsorglich und dreht der Kollegin zum Einschlafen eine Aufnahme mit Meeresrauschen an. Immerhin bietet das Wachsein die Chance, nachts rauszukommen: Bibi wirft sich den Mantel über den Pyjama und besorgt sich illegale Tabletten, dabei stößt sie auf eine Spur. Außerdem entwickelt sie ein erstaunliches, fast paranormales Bauchgefühl; was natürlich ein haarsträubender Dreh ist, der aber nicht weiter stört, sondern hier irgendwie ganz richtig wirkt.

Für einen kurzen Moment legt sich dann über die ganze Stadt Wien, über das Unglück und die armen Kinder ein gewaltiges, atmendes Meeresrauschen. Erst viel, viel später schläft Bibi Fellner tief und fest ein. Anschauen!

Das Erste, Sonntag, 20.15 Uhr.

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