Süddeutsche Zeitung

Weihnachtsfilm "Stille Nächte":Fest der Lüge

Georg und Rita sind längst geschieden. Aber immer zu Weihnachten spielen sie den Eltern zuliebe Theater: das glückliche Ehepaar. Das ist so tragisch wie komisch.

Von Gerhard Matzig

Man könnte heulen. Über einen Brief und zwei tote Eltern, über Kinderliebe und Lebenslügen, über verpasste Chancen und letzte Ausfahrten, über Glasbausteine, Fünfziger-Jahre-Möbel, psychedelisch ornamentierte Bettwäsche, Blümchentapeten und ein Weihnachtsessen, das aus Würstchen besteht. Über die Bastelecke im Keller, die nach Schmierfett und Holzstaub riecht. Über ein Kinderzimmer unterm Dach, in dem ein alter Globus herumsteht. Man weiß genau, wie man diesen Globus einst mit Kinderaugen betrachtet und sich vorgenommen hatte, die Welt zu erobern.

Aber dann wurde man doch nicht Oberarzt, sondern Krankenpfleger. Und doch nicht glücklicher Familienvater, sondern unglücklich geschiedener Single. So wie Georg. Und man wurde nicht erwachsen und groß, sondern nur ein großer Lügner und obendrein ein kleines Würstchen. Ein Feigling. So wie Georg. Wenn er auch ein liebender Feigling ist, den man sehr mag.

Ein Wunder

Dass man sich in Georg so gut einfühlen kann, dass man sich so sehr für ihn interessieren will, liegt an einer guten Geschichte, hervorragenden Schauspielern, einer fast schon zärtlichen Regie, einer sich - selten genug zu erleben im Fernsehen - sehr viel Zeit nehmenden Kamera inmitten umdunkelter Sepia-Töne. Und an dem Wunder, dass nicht einmal die Degeto den Film Stille Nächte ruinieren konnte. Denn der Film ist eine fein ausbalancierte Tragikomödie - und das öffentlich-rechtliche Nur-kein-Risiko-Fernsehen kann gemeinhin beides nicht, weder Tragisches noch Komödiantisches. Worin eine gewohnheitsmäßig unlustigeTragik ganz eigener Art liegt.

Stille Nächte aber ist ein überraschender Vorweihnachts-Film. Fast bis zum Schluss, und wenn man noch einen Wunsch frei hätte zu Weihnachten, so wünschte man sich, die ARD hätte auf das unglaubwürdige Happy End verzichtet, das dann doch aussieht wie ein Kitsch-as-kitsch-can-Weihnachtsbaum. Stattdessen sollte der Film ein paar Minuten früher enden.

Erst Sturm und Drang, dann laues Lüftchen

Nämlich exakt dann, wenn Katharina Schüttler als Georgs Ex namens Rita und Matthias Koeberlin als Georg im Park vor einem großen Brunnen sitzen, um einem Spielzeugsegelboot auf eine großartig verlorene, dabei aber gar nicht mal so unglückliche Weise nachzublicken. So wie man der entschwundenen Kindheit und ihren Glücksversprechungen nachblickt. Als wäre der Wind, der das Boot vorantreibt, jener Wind, der dem Sturm und Drang aus Kindheit und Jugend ähnelt - nun hat er sich gedreht und ist jetzt einfach nur der ganz normale gottverdammte Gegenwind der Welt im Erwachsenenalter. Und zwar in seiner erbärmlichsten Form: als laues Lüftchen, dem wir dennoch nicht gewachsen sind.

Georg spielt allerdings immer noch. Seinen Vorort-Eltern, bei denen alljährlich das Weihnachtsfest zum festen Ritual der herrlichen Kleinbürgerfamilie zählt, spielt er vor, er sei immer noch glücklich verheiratet. In Komplizenschaft mit Rita, die alljährlich mitmacht bei der großen Lüge. Georg und Rita fanden sich einst im Sandkasten als Kinder. Aber die Liebe von damals ist verschwunden - und nur noch das Kinder-Xylophon, das jetzt im Bastelkeller vor sich hindämmert, kann das Glück bezeugen.

Das Glück kann man sich auch basteln

Weshalb man sich das Glück halt basteln muss - schon, um die Eltern nicht zu enttäuschen. Und auch, um sich selbst, einmal im Jahr zu Weihnachten mit der Lüge vom Glück zu beschenken. Daher lebt die Komik im Film davon, wie die beiden Ex-Partner ihr Ex-Glück vor Ritas Schwiegereltern und Georgs Papa Paul (grandios: Hanns Zischler) und Mama Clara (nicht weniger grandios: Katharina Thalbach) geheim halten.

Wobei die Komplizenschaft dadurch erschwert wird, dass auch Rita Georg über ihr aktuelles (Un-)Glück belügt - und Georg Rita über sein aktuelles (Un-)Glück. Wozu noch kommt, dass Clara und Paul das alles längst durchschaut haben - aber ihr eigenes Geheimnis hüten. Was dabei herauskommt, ist am Ende kein Klamauk. Sondern eine anregende Geschichte darüber, dass Weihnachten nicht nur das Fest der Liebe ist, sondern auch das der Lüge. Und die gehört unbedingt mit zur Familie.

Stille Nächte, Freitag, 5. Dezember, 20.15 Uhr, ARD

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2247023
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ.de/rus
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.