Web-Projekt:Unsere kleine Stadt

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Manuel Conrad hat vor gut zwei Jahren Merkurist gestartet. Das Ende der Financial Times Deutschland im Dezember 2012 ließ ihn eine andere Form von Journalismus versuchen. (Foto: Merkurist)

Das Lokal-Portal "Merkurist" macht seine Leser zu Reportern und will so über das berichten, was die Menschen wirklich bewegt. Funktioniert das?

Von Viola Schenz

Reiner Höffner fotografiert gern. Dem 61 Jahre alten Frührentner fällt in seiner Heimatstadt Mainz alles Mögliche auf, mehr als 6000 Bilder hat er schon an die Mainzer Redaktion des Merkurist geschickt. "Herr Höffner ist eigentlich unser bester Mitarbeiter", sagt Manuel Conrad. Auf Menschen wie Höffner sind Conrad und sein Merkurist-Team angewiesen.

Merkurist ist ein Web-Portal für Lokaljournalismus. Es basiert auf den Vorschlägen seiner Nutzer. Jeder kann welche machen: Was auffällt, belustigt, ärgert. Diese "Snips" können andere mit Fotos, Videos, Fakten anreichern, kommentieren und bewerten. Ein eigens entwickelter Algorithmus misst die kollektive Aufmerksamkeit. Findet ein Snip genügend Interesse, entscheidet die Redaktion, ob ein Reporter auf das Thema angesetzt wird. Neben Mainz gibt es in Frankfurt und Wiesbaden Merkurist-Büros mit je einer vierköpfigen Redaktion und freien Mitarbeitern.

Die Idee ist nicht neu. Einige Zeitungen und Radio- und TV-Sender arbeiten schon länger mit sogenannten Leserreportern oder Bürgerjournalisten, die Storys und Fotos liefern. Für manche winkt ein kleines Honorar, oder viel besser: Porträt und Name werden abgebildet. Was für diese Medien lediglich die Themenfindung ergänzt und die Leser-Blatt-Bindung unterstützen soll, ist beim Merkurist das Grundgerüst: Ohne Ideen von außen geht hier gar nichts.

Manuel Conrad ist Gründer und CEO der Plattform. Der 33 Jahre alte Betriebswirt hatte eigentlich nichts mit Journalismus am Hut; er wurde auf das Metier aufmerksam, als im Dezember 2012 die Financial Times Deutschland dichtmachte, ein paar Dutzend Mitarbeiter auf der Straße standen und die deutsche Medienbranche einigermaßen schockiert war. "Ich fragte mich, wie es sein konnte, dass ein namhaftes Blatt plötzlich kapitulieren muss", sagt Conrad. Bei den Printmedien kriselte es. Eine Lösung wäre möglicherweise, Journalismus ganz anders zu denken, dachte er sich, digital und vor allem aus der Perspektive der Leser. Mit einem Team von Software-Entwicklern tüftelte Conrad los, vor zwei Jahren ging Merkurist online.

Finanziell befindet sich der Merkurist noch in der Entwicklungsphase. Büromieten, gut 15 IT-ler, Manager und sonstige Mitarbeiter, ein Dutzend Redakteure in drei Städten und die vielen freien Schreiber wollen bezahlt sein. Es gibt zwei Software-Unternehmer, die seit dem Start investieren, und gerade ist auch die Verlagsgruppe Rhein-Main eingestiegen. Das Portal lebt zum einen von bezahlten, von Werbekunden selbstverfassten PR-Texten ("Nie wieder unbequeme BHs tragen", "Schmuckunikate & unvergessliche Genussmomente"), die "unseren Maßstäben und Grundsätzen" entsprechen müssen, wie Conrad betont, "die können nicht reinschreiben, was sie wollen". Und von Anzeigen neben den Artikeln, deren Preis sich nach Klickzahlen und Lesedauer berechnet. Die "erfolgreichsten" Artikel finden bis zu 25 000 Leser, 5000 sind schon ein guter Wert, 2000 ein normaler - bei zwei Cent pro Leser nimmt der Merkurist hier 40 Euro für einen Text ein. Viel mehr bekommt sein Autor auch nicht. Die Honorare sind gering, "etwa 80 Cent pro Zeile, würde man es auf Zeilen umrechnen", so wenig zahlen auch Lokalblätter freien Reportern.

Conrads Vision ist ein deutschlandweites Netz von "Newsrooms", die das IT-Modell monatlich mieten und in Eigenregie ihre jeweilige Stadt mit aus Nutzerideen generierten Berichten versorgen. Das alles klingt sehr funktional und serviceorientiert und nach Abschied von journalistischen Idealen, nach dem Ende des Traums vom Theaterkritiker, investigativen Reporter oder New-York-Korrespondenten. Setzen sich Medienunternehmen künftig primär aus IT-Spezialisten und schlecht bezahlten Schreibern zusammen?

Manuel Conrad ist in einem Journalistenhaushalt groß geworden, seine Eltern arbeiten beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk, er kennt beide Welten, die alten und die neuen Medien. "Vielleicht haben wir zu lange zu eng gedacht", sagt er, "was Journalisten interessiert, was sie relevant finden, finden die Leser und Hörer vielleicht keineswegs relevant." Was die Merkurist-Nutzer relevant finden, also vorschlagen, lautet zum Beispiel: "Sollten Mainzer mehr mit Fahrradhelm fahren?", "Hubschrauber kreist über der Innenstadt. Was ist da los?", "Mit Ratten schlafen - Die Menschen unter der Friedensbrücke". Ist das die Zukunft? Lokale Aufreger und Nickeligkeiten? "Wir nehmen auch Wichtigtuer in Kauf, es gibt eben unglaublich engagierte Leute", sagt Conrad. Die Themen seien vielleicht nicht preisverdächtig, es seien halt alltagsbezogene Fragen, die sich die Leute stellten. Und: "Die Leute finden es toll, wenn sie begleiten können, was mit ihrem Vorschlag passiert." Bei konventionellen Leserreporter-Aktionen erscheine allenfalls mal ein entsprechender Artikel, den man aber nicht rückverfolgen könne.

Ein fleißiger Ideeneinreicher wie Reiner Höffner wird auf der Merkurist-Website als "Journalist" geführt. Der Begriff ist nicht geschützt, theoretisch darf sich jeder so nennen; dennoch kriegen traditionelle Medienmacher da Bauchschmerzen. "Wir versuchen den Spagat zwischen Kontakt zur Community und einem professionellen Produkt", so Conrad. Einfach ist das nicht. Eine Plattform wie seine versuchen viele für Werbung oder politische Hetze zu missbrauchen. Bis zu einem Fünftel der Snips werden daher gar nicht erst preisgegeben. Gleichzeitig müsse man eben respektieren, was die Menschen bewegt. Also werden die engagiertesten hin und wieder in die Mainzer Merkurist-Zentrale geladen, manche bringen dann Apfelkuchen mit. Auch so was sollte ein moderner Medienmacher mögen.

© SZ vom 10.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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