Süddeutsche Zeitung

WDR-Dokuprojekt:Leben vor der Kamera

Nordrhein-Westfalen wird 70 - und der WDR schenkt seinem Sendegebiet "Echt wir". Montiert aus über mehrere Monate entstandenen Handyvideos von 20 Protagonisten aller Altersgruppen, entsteht ein vielstimmiges Bild von Land und Leuten.

Von René Martens

Tasmanien, unendliche Weiten: Thor, ein in Norwegen aufgewachsener Übersetzer, der zuletzt in Dortmund gelebt hat, entsorgt gerade Fäkalien. Auf der einjährigen Weltreise mit Frau und vier Kindern ist er unter anderem in einem Haus mit Plumpsklo gelandet.

Der hippieske Thor gehört zu den 20 Menschen zwischen 18 und 88, die für das Langzeitprojekt Echt wir über mehrere Monate ihr Leben mit dem Smartphone dokumentiert haben. Der zweieinhalbstündige Film, konzipiert von der Redaktion der Sendung Hier und heute, ist in fünf Generationenporträts aufgeteilt. Der Norweger ist in dem Kapitel "Generation Familie - Kinder, Glück und Abenteuer" zu sehen, ebenso wie die alleinerziehende Mutter Anja, die der Zuschauer zunächst frustriert von den Überforderungen des Alltags erlebt und dann euphorisiert vom nicht mehr für möglich gehaltenen Finden der großen Liebe. Die übrigen Kapitel heißen "Endlich 18 - Erwachsenwerden und in die Welt starten", "Um die 30 - wie will ich leben?", "Mit 50 - noch einmal richtig durchstarten" und "Über 70 - fürs Altsein zu jung". Im Netz sind die Geschichten der 20 Protagonisten auch als einzelne Serien abrufbar.

"Echt wir liefert - auch - ein soziologisch interessantes Bild des Landes und seiner Menschen", meint Maik Bialk, der Redaktionsleiter von Hier und heute. Eingeflossen sind in das Projekt zum 70. Jahrestag der Gründung Nordrhein-Westfalens statistisches Material und generationspsychologische Studien. Auf Kinder als Protagonisten haben die Macher verzichtet. "Weiß ein 14-Jähriger, was er tut, wenn er etwas vor der Kamera preisgibt? Das war uns zu heikel, denn wir wollten ja das Direkte, das Intime", sagt Bialk.

Echt wir ist nicht das erste Projekt, in dem Clips verwendet werden, die Normalbürger gedreht haben. In anderen Filmen dienten deren Bilder aber nur als "Momentaufnahmen", als "Gimmick, der authentische Stimmung erzeugen soll", sagt Bialk. Dem WDR sei es dagegen wichtig gewesen, aus dem Self-Documentary-Material "eine konsistente Erzählung herzustellen".

8000 Clips entstanden, zumeist Bruchstückhaftes. Drei Cutter und vier Autoren ordneten das Material

Die Suche nach den Protagonisten begann Anfang 2015, fertiggestellt waren die fünf Gruppen aber erst 2016, als das Projekt schon im Gange war. "Die Schwierigkeit bestand darin, nicht nur interessante, charismatische Personen zu finden, wie man sie bei einem normalen dokumentarischen Format auch benötigt", sagt Bialk. "Sie mussten darüber hinaus Lust darauf haben, sich selbst zu filmen, und im Kontext mit anderen funktionieren."

8000 Clips sind im Laufe der Produktionszeit eingegangen. Vier WDR-Autoren und drei Cutter waren im Einsatz. "Man konnte nicht auf die übliche Weise planen. Mal kam an einem Tag ganz viel und dann lange gar nichts. Das macht die Steuerung schwierig", sagt Bialk. Die Autoren seien "Impulsgeber" und "Spiegel" für die 20 Teilnehmer gewesen. Der Redaktionsleiter spricht von "Regieführung nach anderen Gesetzesmäßigkeiten" als bei professionellen Schauspielern.

Den Bildern von Echt wir ist zwar fast jederzeit ablesbar, dass sie mit einem Smartphone aufgenommen wurden. Ein ästhetischer Makel ist das aber nicht, es sind auch nach 180 Minuten keine Abnutzungserscheinungen zu spüren. "Viele Bilder sind fast so gut wie die von normalen Kameramännern, die Unterschiede verschwimmen", findet Bialk. "Vor zwei, drei Jahren hätte man Echt wir in dieser Form noch nicht machen können, da wäre das Material zu rau fürs Fernsehen gewesen."

Während des Langzeitprojekts machten die WDR-Leute die Erfahrung, dass die Digital Natives keineswegs bessere Bilder liefern als etwa die Generation 70 plus. "Das Material der Älteren hatte eine höhere Intensität", sagt Bialk. Das gilt etwa für die 75-jährige Marie-Luise, der die Altersarmut und Zerfall ihrer Familie zu schaffen machen und die Sätze sagt, die Frauen in ihrem Alter normalerweise nicht sagen ("Das ganze Weltgeschehen geht mir so was von auf den Sack"). Sie tut auch Dinge, die Frauen in ihrem Alter normalerweise nicht tun (bluesige Songs auf der Gitarre spielen). Das gilt genauso für Elke, eine 72-Jährige, aus deren Ehe "die Luft raus" ist und die sich nun aufmacht nach Malaysia, um dort als Granny-Au-Pair Kinder zu betreuen - eine Geschichte, die sich auch für einen eigenständigen Film aus der Reihe 37° (ZDF) oder Menschen hautnah (WDR) sehr gut geeignet hätte.

"Jeder der Teilnehmer hatte, unabhängig vom Alter, die Medien- und Bildkompetenz, einzelne Momente festzuhalten", sagt Bialk. Aber diese Fähigkeit reiche in der Regel nicht darüber hinaus, Bruchstückhaftes einzufangen. Daher laute eine Erkenntnis von Echt wir, dass "ohne den Dialog mit professionellen Autoren das Projekt verendet wäre". Das originäre Handwerk des Erzählens werde somit weiterhin wichtig bleiben.

Bialk ist sich sicher, dass die rasanten Entwicklungen in der Smartphone-Technik einen Umbruch im dokumentarischen Schaffen mit sich bringen werden. In zwei, drei Jahren werde es "selbstverständlich" sein, dass sich bei Reportagen und Dokumentationen von Protagonisten zugeliefertes und von professionellen Journalisten gedrehtes Material vermischen. Das werfe Folgefragen auf: Wie authentisch ist Material, das man nicht selbst gedreht hat? Wie kann die Distanz zum Berichterstattungsobjekt gewahrt werden, wenn ein Teil eines Films aus vom Protagonisten gemachten Bildern besteht?

Der auf den ersten Blick naheliegende Gedanke, wegen der Dreharbeiten mit dem Handy sei Echt wir günstiger zu produzieren gewesen als eine herkömmliche TV-Dokumentation, sei übrigens falsch, sagt Redaktionsleiter Maik Bialk: "Man ist zwar weniger vor Ort. Die Kosten verlagern sich aber in die Bearbeitung."

Hier und heute: Echt wir, WDR, 23.40 Uhr.

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Quelle:
SZ vom 26.08.2016
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