Süddeutsche Zeitung

Wahlkampf in der Türkei:Dauerwerbesendung für Erdoğan

Vor der Präsidentschaftswahl in der Türkei am 24. Juni kennen die Medien nur noch ein Thema - und einen Kandidaten.

Von Christiane Schlötzer

Sie kamen von türkischen Staatssender TRT, hatten Schminkkoffer, Kameramann und Kabelträger dabei. Im Gefängnis von Edirne errichteten sie ein provisorisches Fernsehstudio: für einen Auftritt von Selahattin Demirtaş, Häftling und Präsidentschaftskandidat der Kurdenpartei HDP. Demirtaş trug für den Anlass einen Anzug, zweimal zehn Minuten durfte er in eine Kamera sprechen - so will es das türkische Wahlgesetz. Jedem Präsidentschaftskandidaten steht diese Form der Propaganda zu. Ausgestrahlt wird der zweite Teil der Publikumsansprache am 23. Juni, einen Tag vor der Präsidenten- und Parlamentswahl, von 17.50 bis 18.00 Uhr.

In der Türkei herrscht seit fast zwei Jahren Ausnahmezustand, die Medien stehen unter enormem Druck, mehr als 150 Journalisten sind in Haft, aber ausgerechnet der Staatssender TRT macht Dienst nach Vorschrift - zum Ärger von Präsident Recep Tayyip Erdoğan: Der will künftig Untersuchungshäftlingen Kandidaturen verbieten lassen, wenn er am 24. Juni wieder Staatspräsident wird.

Gewöhnlich hört man nur wenig Klagen der türkischen Regierenden über das Fernsehen, schließlich sind alle großen staatlichen und privaten Sender soweit auf Linie, dass sie stundenlang Erdoğans Wahlreden live übertragen. Die meisten großen Zeitungen sind nicht weniger regierungsfreundlich. Wie ungleich die Gewichte verteilt sind, hat die staatliche Rundfunkaufsicht akribisch festgehalten, auch das verlangt ein Gesetz: So waren Politiker der regierenden AKP und ihrer nationalistischen Partnerpartei MHP in den ersten drei Wahlkampfwochen 37 Stunden, 40 Minuten und zwei Sekunden bei TRT im Bild. Die ganze Opposition bekam weniger als ein Zehntel Sendezeit: drei Stunden, 13 Minuten und 58 Sekunden.

Bei manchen Fernsehauftritten wirkte Erdoğan zuletzt müde und zerstreut

Was die Dauerbeschallung bewirkt, ist nicht erforscht, aber so viel weiß man: 70 Prozent der Wähler - auch jeder zweite AKP-Sympathisant - finden, die Medien in ihrem Land seien "einseitig und nicht vertrauenswürdig". 56 Prozent - auch 31 Prozent der AKP-Wähler - sagen, die Medien seien "nicht frei". Dies ist das Ergebnis einer aktuellen Studie des Center for American Progress, in Zusammenarbeit mit der in der Türkei tätigen Mercator-Stiftung, für die im Mai und Juni 2534 Türken in 28 Provinzen befragt wurden.

Bei manchen Fernsehauftritten wirkte Erdoğan zuletzt müde und zerstreut. Einmal versagte der Teleprompter, Erdoğan brach ab, ein anderes Mal hörte man einen Souffleur die Namen der Provinzen flüstern. Das sorgte für Spott der Opposition. Bekam der Spitzenkandidat der größten Oppositionspartei, der CHP, Muharrem İnce, dagegen mal Gelegenheit zu einem TV-Auftritt, trieb die Neugier auf den Neuen die Einschaltquoten in die Höhe. İnce hält den liebedienerischen Medien gern den Spiegel vor: Als der Moderator des Privatsender NTV ihn fragte, was sein Plan wäre, wenn er in die Stichwahl gegen Erdoğan käme, sagte İnce: "Ihr habt die 16 Wahlreden von Erdoğan von Anfang bis Ende übertragen, aber nicht einen einzigen meiner 77 Auftritte. Ich frage also eher Sie: Was ist Ihr Plan für die zweite Runde?"

Journalisten, die ihre Jobs verloren haben, als die Medien immer regierungsfreundlicher wurden, haben mehrere erfolgreiche Internetzeitungen gegründet (so wie www.diken.com.tr, t24.com.tr oder www.gazeteduvar.com.tr). Sie haben zusammen mehrere Millionen Follower bei Twitter und erfreuen sich ständig steigender Aufmerksamkeit. Auf Platform24.org erfährt man zudem, welche Journalisten in Haft sitzen und wann ihre Prozesse stattfinden. Überlebt als oppositionsnahes Blatt hat die bald 100 Jahre alte Cumhuriyet, auf Papier mit nur noch knapp 40 000 Exemplaren, aber auch hier vergrößert das Internet die Leserschaft. Internetsperren - zum Beispiel beim Zugang zu Wikipedia - umgehen viele Türken inzwischen routiniert durch VPN-Tunnel, mit denen sich digital der Eindruck erwecken lässt, man befände sich gar nicht in der Türkei.

Auch AKP-Politiker posten fleißig bei Facebook, zuletzt gar ein Video aus einer internen Versammlung. Dabei gab Erdoğan Anweisungen, wie jeder einzelne Wähler in jedem Viertel zu bearbeiten sei. Der Präsident war über diese Veröffentlichung nicht erfreut.

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Quelle:
SZ vom 18.06.2018
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